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Marathon zum JubiläumWas man in zehn Stunden „Tatort“-Gucken über Deutschland lernt

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Lemm

Jonah Lemm, Reporter beim „Kölner Stadt-Anzeiger“, hat anlässlich des Jubiläums stundenlang „Tatort“ geguckt.

Köln – Wie steigt man in so einen Text ein? Wahrscheinlich am besten wie Til Schweiger als Nick Tschiller in jedes Versteck des Superganovengangsters, den er gerade so jagt: mit einem Knall. Den, denke ich mir, als ich so da liege, auf dem Sofa, in Stunde sieben dieses Selbstexperiments, muss ich gehabt haben, als ich zusagte, einen Tag nur damit zu verbringen, Tatort zu schauen. In meinem Kopf verschwimmen Zeit, Bilder, Verhöre, Zugriffe, dramatische Wendungen, Schüsse, Dialoge zu einem einzigen Fall. Und zwar, wenn ich nicht gleich ausschalte, zu einem für meinen Psychologen. Posttatortische Belastungsstörung. Aber der Reihe nach.

Ein Freitagmorgen, ich trage ein Hemd und Anzughose und das ist schon die falsche Prämisse. Tatort, das ist der Abschluss der Woche, Sonntagabend in gemütlicher Kleidung. Ich denke an die immer gleichen Gespräche meiner Eltern während der Tagesschau. Mutter: „Welche Stadt kommt denn heute?“ Der Vater wusste die Antwort, die aber egal war, denn der Tatort wurde sowieso geguckt, egal welche Stadt.

Ich allerdings habe heute nur wenige Stunden, um mich einmal quer durch die Kapitel der bundesdeutschen Kriminalgeschichte komazuglotzen. Getroffen wurde die Auswahl der Episoden deswegen in strenger Absprache mit der Kulturredaktion, beziehungsweise: Die Kollegin hat mir die Filme diktiert.

Noch schnell einkaufen, Zigaretten und Bier. Na dann.

Die 70er-Jahre: „Taxi nach Leipzig“ (1970)

Der Allererste. Musste suchen, gab’s nicht in der ARD-Mediathek. Habe ihn dann auf der Facebookseite „The Bratwurst King“ in voller Länge gefunden.

Geht gut los, mit einem Intro-Song irgendwo zwischen Eric-Clapton-Gitarrenriff und Hotellobby-Band. Dazu eine Schrift, die verdächtig an „Star Wars“ erinnert. Bin sofort drin.

Ermitteln wird der Hamburger Hauptkommissar Paul Trimmel, Typ „Mein Hobby ist, Menschen feste ins Gesicht zu schlagen“. Ausgangslage: Ein Kind ist tot aufgefunden worden, bei Leipzig. Das ist zwar weit weg von Hamburg, aber weil die Ossis anscheinend keine Lust haben, das ganze selbst aufzuklären und die Sache über drei Ecken doch mit Hamburg zu tun hat (späterer Verdächtiger hat mal dort gewohnt), muss es halt Trimmel machen. Dann mal Eiserner Vorhang auf.

Man sieht: Schwere Männer mit breiten Krawatten, die viel rauchen, saufen und dazwischen etwas ermitteln. Frauen kommen in der ersten Viertelstunde nur vor, um angeschrien zu werden (Zu kurzer Rock; nervender Hund). Wobei: Frauen im Plural ist auch Übertreibung, denn sehen wird man im ganzen Film nur eine einzige Frau. Und die ist auch noch Täterin. Hat versucht, ihren unehelichen Sohn wegzugeben, um sich voll und ganz ihrem Liebhaber hingeben zu können. Man bekommt einen Eindruck davon, wovor sich Drehbuchautoren in den 70ern gefürchtet haben.

Nach der Hälfte weiß man, wer es getan hat und warum (Frau und Ex-Mann haben gemeinschaftlich todkrankes Kind mit gesundem vertauscht), es folgt vor allem Kitsch, Schlagermusik und Schnaps. Ein Satz des von mir sehr verehrten Autors Marc Fischer kommt mir in den Sinn: „Wer ARD sagt, muss immer auch ein bisschen BRD sagen.“

Die 80er-Jahre: „Duisburg Ruhrort“ (1981)

Langes Haar, Schnurrbart, hautenges Shirt, Schmuddeljacke. Hallo Schimanski. Kann man natürlich nichts gegen sagen, gibt auch nichts, worüber man sich bei Götz George lustig machen könnte. Oder dürfte. Müsste eigentlich – meine Meinung – zwecks Denkmalschutz unter Strafe stehen, sich über Götz George lustig zu machen. Nur als Anregung, falls uns hier Vertreter der Bundesregierung lesen.

Wir lernen: Ein männlicher Mann zu sein, heißt für Tatort-Macher in den 80ern, ein rohes Ei zum Frühstück in einem Schluck zu trinken. Auch sonst kommt wenig progressive Stimmung auf. Eine Frau erzählt während einer Vernehmung, sie wurde von ihrem Freund verprügelt, Schimanski nimmt das mit Gleichgültigkeit im Blick und Bier in der Hand kommentarlos hin.

Dafür ist der Fall einigermaßen spannend: Ein Binnenschiffer ist tot, später auch ein Gastarbeiter. Die Polizei enttarnt den Waffenschmuggel einer türkischen Verbrecherbande. Was auf den Zuschauer sicher nicht vorurteilsabbauenden Einfluss hat. Ein Fabrikbesitzer sagt über einen seiner Angestellten: „Der ist in Ordnung. Fast wie ein Deutscher.“ Tja. Puh.

Am Ende war zumindest das Motiv ein klassisches: Eifersucht. Und Ralf Richter hatte eine Nebenrolle. Fazit: 97 Minuten Hardcore und echte Gefühle.

Ende der Neunziger: „Willkommen in Köln“ (1997)

Musste mir diesen Tatort kaufen. 2,49 Euro. Auf Youtube. Die Titelmelodie klingt wie ein Ronan-Keating-Instrumental. Dazu gelbe Schrift, ein junger Klaus Behrendt und ein Dietmar Bär, der optisch seitdem nicht mehr gealtert ist. Es ist der erste Fall von Ballauf und Schenk. Von Familienvater-Charme ist noch nichts zu sehen. Stattdessen knutschen sie ungefragt die Sekretärin. Ich erkenne ein Muster. Immerhin: Ballauf kriegt während des Dienstes Schnaps angeboten und lehnt ab.

Ansonsten alles ein bisschen sehr Miami-Vice-mäßig, der Stadt, aus der Ballauf nach Köln versetzt wird. Über Junkies vom Ebertplatz kommen wir zu einer privaten Securityfirma, die anscheinend Guantanamo-Methoden für eine legitime Drogenpräventionsmaßnahme hält und dafür auch noch Rückendeckung von Verwaltung und Polizei bekommt. Am Ende fliegt ein Heroin-Händler auf, der den Stoff in exotischen Fischen nach Deutschland geschmuggelt hat.

Eine Person, die ich über meine Tagesbeschäftigung informiert habe, schickt mir ein Video, in dem WDR-Intendant Tom Buhrow sagt, der Tatort bringe immer auch „ein Stückchen Vertrautheit“ mit sich. Hätte nun gern eine Forsa-Umfrage darüber, wie viele Deutsche mit Heroin-Schmuggel in exotischen Fischen vertraut sind.

Bremen in den 200ern: „Familienaufstellung“ (2009)

Habe den falschen Tatort über Ehrenmord angemacht. Die Kollegin aus der Kultur wollte, so schreibt sie mir nun, dass ich „Wem Ehre gebührt“ mit Maria Furtwängler schaue. Stattdessen: Sabine Postel und Oliver Mommsen. Und: Bremen. In den Kommentaren unter dem Video (zwei) ist man sich uneinig: „Danke sehr guter Tatort“ schreibt einer, „Ü-ber-la-den! Fast eine Doku über Klischees“ schreibt ein anderer.

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Reicht mir, um weiter zu schauen. Huch: Elyas M’Barek. Als böser Bruder, der es seiner Schwester übel nimmt, dass sie nicht ihren Cousin geheiratet hat. Streng religiöse Familie. Und dabei sprechen die akzentfrei deutsch! Sogar die Frauen!!! Frage mich bei solchen Folgen immer, was mir das sagen soll, worin hier der Bildungsauftrag liegt: Bleib bloß misstrauisch bei den netten Nachbarn mit den schwarzen Haaren? Irgendwann auch kritische Selbstbefragung von den Kommissaren Lürsen und Stedefreund, die sich wundern, ob er nun Muslim-Macho-Versteher oder sie Fascho-Feministin ist.

Mache mir ein Bier auf und bringe es hinter mich.

Til Schweiger im „Tatort“: „Willkommen in Hamburg“ (2013)

Til Schweigers Debüt. Beschreibungstext: „Der geschiedene Polizist Nick Tschiller zieht zu seiner pubertierenden Tochter nach Hamburg, da sich seine Exfrau Isabella wieder stärker ihrer Karriere widmen will.“ Und dann: drei Tote in den ersten fünf Minuten.

Kompletter Vollwahnsinn. Schlage für die nächste Episode „Wer weiß denn sowas?“ folgende Schätzfrage vor: Wie viele Fabrikhallen bräuchte es, um die Munition zu lagern, die Tschiller in „Willkommen in Hamburg“ verballert?

Es geht um irgendwas mit Clans und Zwangsprostitution. Als Tschiller dann unter Beschuss einer Maschinenpistole durch eine Fensterscheibe stürzt, eine zufällig davor hängende Kette greift, sich daran festhaltend ein Stockwerk tiefer schwingt und das alles auch genauso aussieht, nämlich: auf keinen Fall echt. Da kann ich nicht mehr.

Ich drehe mich weg, schaue an die Decke, höre nur noch halb hin. Was zur Hölle, soll mir das nur über Deutschland sagen? Doch dann ein Gedanke: Dieser Sturz gerade, sollte ein Ablenkungsmanöver sein von Tschiller. Und vielleicht ist der Tatort ja genau das: Ein riesiges Ablenkungsmanöver vor dem Wochenbeginn. Anderthalb Stunden nicht an Montag denken zu müssen. Vielleicht reicht das. Ich schalte den Fernseher aus. Es ist Freitagabend. Übermorgen kommt Tatort. Ich werde ihn gucken.

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