„Tatort“-Jubiläum„Hotte, du Idiot! Hör auf mit der Scheiße!“

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Götz George als Horst Schimanski

  • Prügelnde Polizeibeamte, minderjährige Mörderinnen, 50 Tote: Über wenig regen sich die Deutschen so gerne auf wie über ihren sonntäglichen „Tatort“.
  • Wir haben den 50. Geburtstag des „Tatort“ zum Anlass für eine Reihe genommen, die Sie durch diese Woche begleiten wird.
  • Hier erzählen wir die erstaunliche Geschichte der erfolgreichsten Krimiserie des deutschen Fernsehens.

Köln – In der Küche herrscht ein riesiges Chaos, überall steht dreckiges Geschirr herum, der Kühlschrank gibt nicht viel mehr her als ein paar Eier, die  der ziemlich verkatert dreinschauende Mann deshalb roh aus dem Glas trinkt. Dann sammelt er noch leere Bierflaschen ein, die überall herumstehen, wirft sich die Jacke über, verlässt das Haus. Kurze Zeit später wird er seinen ersten Satz sprechen: „Hotte, du Idiot! Hör auf mit der Scheiße!“ Als Götz George in der Rolle des Horst Schimanski in „Duisburg: Ruhrort“ 1981 das Universum des „Tatort“ betrat, sorgte das für eine heute kaum noch vorstellbare Aufregung.  Ein saufender, fluchender, sich prügelnder Polizeibeamter? Das durfte nicht sein, befanden viele. Der Ausgang der Geschichte ist bekannt: Horst Schimanski wurde Kult und Götz Georges bekannteste Rolle.

50 Jahre „Tatort“

Vor genau 50 Jahren lief mit „Taxi nach Leipzig“ der erste „Tatort“ im Ersten, keine andere deutsche Krimi-Reihe gibt es länger, keine andere erreicht diese mediale Aufmerksamkeit. Geht es darum, was typisch deutsch ist, fallen oft Schlagworte wie Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Genauigkeit. Aber typisch deutsch ist doch vor allem die Liebe zu Apfelschorle, Spargel – und das merkwürdige Ritual, sonntags  um 20.15 Uhr vor dem Fernsehen zu sitzen, um „Tatort“ zu gucken. 59 Prozent der Deutschen haben laut ARD 2019 mindestens einen „Tatort“ komplett gesehen.

So wie Horst Schimanski erregten im Laufe der Jahrzehnte viele Filme die Gemüter. Sei es „Reifezeugnis“, in dem 1977 die damals 16 alte Nastassja Kinski eine Schülerin spielte, die eine Affäre mit ihrem Lehrer hat. Oder 2007  der Fall „Wem Ehre gebührt“ mit Maria Furtwängler. In der Folge geht es um sexuellen Missbrauch in einer türkisch-alevitischen Familie. Nach der Ausstrahlung kam es zu Protestaktionen der Aleviten in Deutschland.

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Und als es im  Italo-Western-Krimi „Im Schmerz geboren“ mit Ulrich Tukur 2014 fast 50 Leichen gab, rühmten die einen den Mut und die Innovationsfreude der Macher, die anderen sahen den „Tatort“ endgültig am Ende. Egal ob Hass oder Liebe, irgendeine Reaktion ruft die Reihe in jedem hervor. Und sei es nur die mit Nachdruck vorgetragene Feststellung, ihn nie zu schauen.

Regionalität und gesellschaftlich relevante Themen für Erfolg

Als Gunther Witte als Dramaturg beim WDR 1969 den Auftrag erhielt, eine neue Krimireihe für die ARD zu entwickeln, die der ZDF-Serie „Der Kommissar“ Konkurrenz machen sollte, war nicht daran zu denken, dass der „Tatort“  einmal zur bekanntesten Marke des fiktionalen Erzählens in Deutschland werden würde. Witte, der 2018 starb, hatte eine einfache und vielleicht gerade deshalb so erfolgreiche Idee: Er setzte auf  Regionalität und Themen, die eine gesellschaftliche Relevanz hatten. Mit „Taxi nach Leipzig“ ging es am 29. November 1970 los. Dabei war der Film eigentlich eine Mogelpackung. Es war der zweite  Krimi mit der Figur Paul Trimmel und  wurde  erst nach der Fertigstellung als Auftaktfilm in die Reihe  integriert.

Der „Tatort“  startete in einer Fernsehlandschaft, die mit der heutigen nicht mehr viel gemein hat.  In den Anfangsjahren der Reihe war es  keinesfalls selbstverständlich, dass jeder Haushalt über ein Fernsehgerät verfügte.  1970 sahen noch zehn Millionen Bürger der alten Bundesrepublik gar nicht fern,  weil sie  keinen Apparat im Haus hatten. Und wer ein Gerät besaß, hatte maximal zwei Programme zur Auswahl, das ZDF war nicht überall zu empfangen.

Wer sich also am Sonntagabend – in den ersten 20 Jahren der Reihe nur einmal im Monat – fürs Fernsehgucken entschied , landete fast automatisch beim „Tatort“. Das erklärt die unglaubliche Verbreitung jener Jahre: „Nachtfrost“ vom 20. Januar 1974 erreichte  76 Prozent aller Fernsehhaushalte. Die Folge  „Rot – rot – tot“ (SDR) mit Curd Jürgens konnte am Neujahrstag 1978 rund 26,5 Millionen Zuschauer vor dem Fernseher versammeln.

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Solche Zahlen sind in Zeiten einer fortschreitenden Fragmentierung des TV-Marktes und immer neuer Konkurrenz durch Filme und Serien bei Streamingdiensten nicht mehr zu erreichen, aber auf rund zwölf Millionen Zuschauer bringen es etwa die Münster-„Tatorte“ auch heute noch.   Seit 2010 lag die durchschnittliche Zuschauerzahl für die knapp 400 neuen „Tatort“-Filme laut Angaben der ARD bei 8,9 Millionen. In dieser gesamten Dekade gab es in Deutschland insgesamt nur sieben andere Filme, die nicht aus der „Tatort“-Reihe (oder der Schwester-Reihe „Polizeiruf 110“) stammten und mehr Zuschauer erreichten als der Durchschnitt aller „Tatort“-Fälle.

Das ist ein erstaunlicher Wert, vor allem, wenn man bedenkt, dass neben herausragenden Filmen auch sehr viel Mittelmaß beim „Tatort“ zu finden ist. Vielleicht ist es mit der Reihe ein wenig wie mit der eigenen Familie. Man hat viel, auch viel Schönes, miteinander erlebt, manchmal kann man sie dennoch nicht ertragen. Man regt sich regelmäßig über sie auf und würde manchmal am liebsten den Kontakt abbrechen – aber ohne sie kann und will man dann  auch nicht sein. Man halt einfach eine sehr lange gemeinsame Geschichte. Oder wie es WDR-Intendant Tom Buhrow ausdrückt:„Als bekennender Fan sage ich: Man geht mit dem »Tatort« durchs Leben“.

„Tatort“ schafft Identifikation

ARD-Programmdirektor Volker Herres sagt, der „Tatort“ schaffe Identifikation . „Mit dem Land und seinen Regionen, seinen Menschen und Mentalitäten, seinen Eigenheiten und Befindlichkeiten.“ Er bilde das alles aber nicht bloß ab, sondern erzähle und verdichte es auf ganz eigene Weise neu: „Er ist der Traum, ohne den die Wirklichkeit nicht auskommt.“ Das ist vielleicht ein bisschen hochgegriffen, aber das deutsche Fernsehen scheint auch nach 50 Jahren tatsächlich nicht ohne den „Tatort“ auszukommen.

Das Erste zeigt am 29.November und am 6. Dezember die Jubiläums-Doppelfolge „In der Familie“. Wir haben den 50. Geburtstag des „Tatort“ zum Anlass für eine Reihe genommen, die Sie durch diese Woche begleiten wird.

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