Soziale Ängste in der Corona-Krise„Isolation ist für Kinder das Schlimmste“

Lesezeit 4 Minuten
Depressionen und Ängste bei Kindern und Jugendlichen haben enorm zugenommen.

Depressionen und Ängste bei Kindern und Jugendlichen haben enorm zugenommen.

Doktor Andrea Stippel ist Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie im „Konraderhof“ in Hürth und Mitautorin des im Elsevier Verlag erschienenen Buchs „Psychische Erkrankungen – und die Auswirkungen einer Pandemie“.

Frau Doktor Stippel, Sie sind Chefärztin einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wie ist die aktuelle Situation in Ihrer Klinik?

Andrea Stippel: Wir sind voll ausgelastet und haben viele weitere Anfragen. Der Bedarf ist gerade überall hoch. Normalerweise haben wir im Jahresverlauf zum Beispiel in den Ferien auch Zeiten mit weniger Patientinnen und Patienten. Das ist dieses Jahr nicht so gewesen. Im Moment nehmen wir besonders viele Kinder und Jugendliche mit Essstörungen auf. Manche müssen erst einmal in der normalen Kinderklinik kalorisch aufgepäppelt werden, bevor in der psychiatrischen Klinik die Essstörung behandelt werden kann.

Warum begünstigt die Pandemie Essstörungen?

Weil sie den Betroffenen eine Struktur im Alltag gibt. Viele haben mit Sport und gesunder Ernährung angefangen. Das fanden die Eltern erstmal gut. Dann haben sie immer mehr abgenommen und irgendwann verselbstständigt sich eine Essstörung. Außerdem beobachten wir eine Zunahme bei Angststörungen, Depressionen und sozialen Ängsten. Wir sehen in der Klinik die, die nicht mehr können.

Warum können gerade jetzt viele nicht mehr?

Die Geschichten, die wir im Moment von Eltern und Patienten hören, sind immer verknüpft mit den verschiedenen Phasen der Pandemie. Die schlimmste Welle war für viele die zweite, also letzten Winter. Da hat man sich bis zum Frühjahr durchgehangelt und gedacht: Bald geht es wieder los und alles wird normal. Als sich die Schwierigkeiten der Kinder nach den Sommerferien nicht gelegt haben, haben sich viele Eltern Hilfe gesucht.

Sie haben in einem Fachbeitrag geschrieben, dass das Ausmaß der psychischen Langzeitfolgen für Jugendliche nach den langen Schulschließungen noch nicht absehbar ist. Was vermuten Sie?

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie gehen wir davon aus, dass wir gewissermaßen eine Welle vor uns herschieben. Erst wenn die Schulen wieder im Normalbetrieb sind und die Kinder allen Aufgaben in ihrer Entwicklung gerecht werden müssen, sehen wir das Ausmaß der Folgen. Wobei natürlich immer gilt: Das betrifft nicht alle, sondern Kinder und Jugendliche mit bestimmten Voraussetzungen. Zum Beispiel haben junge Menschen Schwierigkeiten, die auch vor der Pandemie schon sehr introvertiert waren. Sie müssen das Miteinander in der Schule wieder neu lernen oder sich richtig zwingen, sich mündlich am Unterricht zu beteiligen. Die Defizite beschränken sich nicht auf verpassten Schulstoff. Das wird in der Diskussion oft vergessen.

Spielen soziale Ängste hier eine Rolle?

Ja, Kinder und Jugendliche mit sozialen Ängsten waren durch den Distanzunterricht erst einmal entlastet und mussten sich ihren Ängsten lange nicht stellen. Ich hatte einen jugendlichen Patienten, der die Schulschließungen erst einmal gut fand.

So können Sie helfen

wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird“ bitten wir um Spenden für Projekte, die Kinder und Jugendliche wieder in eine Gemeinschaft aufnehmen, in der ihre Sorgen ernst genommen werden.  

Bislang sind 1.328.993,90 Euro (Stand: 27.09.2022) eingegangen. Die Spendenkonten lauten: „wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“ Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 3705 0299 0000 1621 55 Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 3705 0198 0022 2522 25

Mehr Informationen und Möglichkeiten zum Spenden unter www.wirhelfen-koeln.de.

Als die Schule wieder mit den neuen Gegebenheiten – Masken, Tests, markierte Laufwege auf dem Boden – öffnete, konnte er sich lange nicht zurechtfinden. Dann nimmt der Patient sich zum Beispiel in der Therapie vor: Heute frage ich bei einem bestimmten Mitschüler nach, wenn ich etwas nicht verstehe. Das erscheint manchen als kaum machbare Aufgabe.

Wie können Eltern erkennen, ob ihr Kind „nur“ schüchtern ist oder eine psychische Erkrankung vorliegt?

Es gilt immer: Wenn der Alltag über einen längeren Zeitraum nicht bewältigt werden kann, sollte man sich Rat holen und das auch nicht hinauszögern. Oft wollen Eltern intuitiv alle Schwierigkeiten für ihre Kinder aus dem Weg räumen. Man muss aber manchmal pragmatisch sein: Kinder sollten soziale Situationen üben – auch wenn sie sich unwohl fühlen und ängstlich sind. Das ist natürlich in der Corona-Krise besonders schwierig, wo wir alle angehalten sind, soziale Kontakte zu reduzieren.

Das könnte Sie auch interessieren:

Viele Kinder wollen sich auch nicht mehr von ihren Eltern trennen.

Trennungsängste haben in der Pandemie enorm zugenommen. Die Kinder haben sich daran gewöhnt, dass alle immer sicher zuhause sind. Viele sind nicht zu Verwandten oder in den Urlaub gefahren. Auch das ist eine wichtige Erfahrung, die Kindern fehlt: neue Orte entdecken und sich dort zurechtfinden.

Wie schätzen Sie die Situation für diesen Winter ein?

Jüngere Kinder haben oft panische Angst, dass sie in der Schule einen positiven Test haben und dann schuld sind, wenn andere in Quarantäne müssen. Sie fühlen sich mit Maske viel sicherer. Hauptsache sie können ihre Freunde weiter sehen. Isolation ist nach wie vor das Schlimmste für Kinder und Jugendliche.

KStA abonnieren