Selbstwirksamkeit durch SelbstverteidigungGeflüchtete Kinder lernen Krav Maga

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Die 11-jährige Paniz (l.) übt mit ihrer Freundin Angel und Trainerin Tana Schulte gezielte Tritte zur Selbstverteidigung.

Köln – Ein Kampf ist noch nicht verloren, auch wenn man am Boden liegt. Krav-Maga-Trainerin Tana Schulte spielt eine Situation, bei der ein Dieb einen auf dem Boden liegenden Strandurlauber ausrauben und verletzen will. Blitzschnell dreht sie sich um, so dass sie die Füße zwischen sich und den imaginären Angreifer stellen und ihm einen kräftigen Tritt verpassen kann. „So habt ihr ganz viel Wumms“, sagt sie. Die drei Mädchen aus Flüchtlingsfamilien, die zum Krav-Maga-Selbstverteidigungskurs ins Trainingszentrum des Vereins „You Can Fight“ an den Kartäuserwall gekommen sind, staunen – und machen es anschließend nach.

Krav Maga ist Hebräisch und heißt übersetzt Kontaktkampf. Imrich Lichtenfeld, geboren 1910, gilt als der geistige Vater von Krav Maga, das erstmals in der jüdischen Widerstandsbewegung der 1930er-Jahre zum Einsatz gekommen sein soll. Die Kampfart verfolgt das Ziel, Menschen jeden Alters und Geschlechts zur Selbstverteidigung zu befähigen. Vermittelt werden Schlag- und Tritttechniken, Griffe und Bodenkampf.

Das Leben gestalten und sich im Notfall verteidigen

Angeboten wird der Selbstverteidigungskurs für Flüchtlingskinder im Alter von zehn bis 14 Jahren vom Therapiezentrum für Menschen nach Folter und Flucht der Caritas in Zusammenarbeit mit „You Can Fight“. Gefördert wird das Projekt von „wir helfen“, dem Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg. Die Mädchen und Jungen sollen im Kurs lernen, ihr Leben selbst zu gestalten. Aber sie sollen auch lernen, wie sie sich im Notfall selbst verteidigen können. „Es geht darum, Selbstbewusstsein zu entwickeln, eigene Grenzen zu erfahren und die eigene Kraft und Stärken kennenzulernen“, sagt Caritas-Sozialpädagogin Antonina Reiners. Caritas und You Can Fight sind in diesem Jahr mit zwei Kursen für Kinder gestartet, an denen insgesamt zwölf Mädchen und Jungen teilnehmen. Weitere Kurse für Jugendliche und Erwachsene würden derzeit vorbereitet.

Laut einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der Krankenkasse AOK (Wido) haben mehr als drei Viertel aller Geflüchteten aus den Herkunftsländern Syrien, Irak und Afghanistan unterschiedliche Formen von Gewalt erlebt und sind dadurch oft mehrfach traumatisiert. Dies habe einen gravierenden Einfluss auf ihre Gesundheit: „Im Vergleich zu Geflüchteten ohne Gewalterfahrungen gibt diese Gruppe mehr als doppelt so häufig physische und psychische Beschwerden an“, heißt es im Bericht. Dabei seien vor allem psychische Beschwerden wie Mutlosigkeit, Traurigkeit, Bedrückung (42 Prozent) und Nervosität und Unruhe (43 Prozent) aufgetreten. Danach folgten körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen (37 Prozent) oder Kopfschmerzen (36 Prozent).

Traumatische Fluchterfahrungen und belastende Faktoren in Deutschland

Auch zahlreiche Flüchtlinge, die derzeit in Köln leben, haben im Heimatland und auf ihrer Flucht traumatische Erfahrungen gemacht. Haben gesehen wie Menschen auf der sogenannten Balkan-Route gestorben sind. Wie Boote auf dem Weg über das Mittelmeer kenterten. Wie Minderjährige von ihren Eltern auf der Flucht getrennt wurden. Geflüchtete benötigen bei der Aufarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse in der Regel professionelle Hilfe. Bei Therapeutinnen und Therapeuten in Köln gibt es lange Wartelisten, so dass Geflüchtete oft wochen- oder monatelang oder sogar länger auf einen Termin warten müssen.

So können Sie helfen

wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird“ bitten wir um Spenden für Projekte, die Kinder und Jugendliche wieder in eine Gemeinschaft aufnehmen, in der ihre Sorgen ernst genommen werden.  

Bislang sind 1.328.993,90 Euro (Stand: 27.09.2022) eingegangen. Die Spendenkonten lauten: „wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“ Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 3705 0299 0000 1621 55 Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 3705 0198 0022 2522 25

Mehr Informationen und Möglichkeiten zum Spenden unter www.wirhelfen-koeln.de.

Auch in Deutschland kommen weitere belastende Faktoren hinzu. Obwohl die Stadt dazu übergeht, weniger Geflüchtete in Sammelunterkünften unterzubringen, leben manche Geflüchtete in sehr beengten Wohnsituationen. Rückzugsmöglichkeiten oder einen Schreibtisch für Kinder, damit sie dort in Ruhe ihre Schulaufgaben machen können, gibt es nicht. Hinzu kommt, dass viele der geflüchteten Familie in Deutschland nur solange geduldet werden, bis der Fluchtgrund, etwa ein Bürgerkrieg, entfallen ist. Manche müssen alle paar Wochen mit einer Abschiebung rechnen.

Große Erwartungen aus dem Herkunftsland belasten zusätzlich

„Die Menschen leben oft mit einem ungesichertem Aufenthalt in Köln, ihre Existenz ist bedroht“, so Reiners. Viele seien auch mit der Kommunikation zu deutschen Behörden völlig überfordert, oft wegen fehlender Sprachkenntnisse. Andererseits gebe es vonseiten der Familien im Heimatland große Erwartungen. Zum Beispiel, dass die Geflüchteten den Familien Geld schicken, was  aber gar nicht möglich ist. „Das führt dann zudem noch zu Schuldgefühlen“, so Reiners.

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Beim Krav-Maga-Kurs können die Kinder daher ihre Gefühle ausdrücken und ihr Selbstbewusstsein stärken. „Man lernt sich selbst zu schützen, das ist eine gute Erfahrung“, sagt eines der Kinder, dessen Name nicht in der Zeitung erscheinen soll. „Endlich weiß ich, wie ich mich gegenüber einem Angreifer wehren kann“, sagt eine andere Teilnehmerin in einer Pause. Dann klatscht die Trainerin Schulte in die Hände und weiter geht es.

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