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Ängste verarbeitenKinder, die Zuhause Gewalt miterleben, müssen darüber sprechen

Lesezeit 6 Minuten
Lucy (Name geändert) spricht ganz offen über die Trennung ihrer Eltern und über das Verhältnis zu ihrem Vater. Trotzdem ist das Bild zu ihrem Schutz verfremdet.

Lucy (Name geändert) spricht ganz offen über die Trennung ihrer Eltern und über das Verhältnis zu ihrem Vater. Trotzdem ist das Bild zu ihrem Schutz verfremdet.

Köln – Vor ein paar Monaten ist das passiert, wovor Zara sich so gefürchtet hat. Sie hat ihn zufällig auf der Straße gesehen. Das musste irgendwann passieren. Sie wohnt mit ihrer Mutter und ihrer Schwester noch in der alten Wohnung, ihr Vater nur ein paar Straßen weiter. „Ich bin einfach mit erhobenem Kopf an ihm vorbeigegangen“, erzählt die 17-Jährige mit den bunten Strähnen in dunkelen, krausen Haaren. Sie ist stolz, wie stark sie in diesem Moment war – und Sozialarbeiterin Regina Wilhelm ist es auch.

Über diese Situation haben sie oft gesprochen, Wilhelm hat Zara verschiedene Stabilisierungstechniken gezeigt, mit einer möglichen Panikattacke umzugehen. Die beiden haben sich über eineinhalb Jahre getroffen, weil Zaras Mutter nach der Trennung von ihrem gewalttätigen Ehemann Hilfe im „Wendepunkt“ der Diakonie Michaelshoven gesucht hat. Die rechtsrheinische Beratungsstelle für Opfer häuslicher Gewalt wurde 2000 ins Leben gerufen. Eigentlich sucht Zaras Mutter damals Hilfe für sich selbst. Obwohl sie nicht als einzige litt.

„Viele Eltern sind überzeugt, dass die Kinder nichts mitgekriegt haben“

Fast jede vierte Frau in Deutschland erfährt irgendwann in ihrem Leben Partnergewalt. Die bundesweite Statistik erfasst körperliche, sexuelle und psychische Gewalt, die in den überwiegenden Fällen von Männern ausgeht. Wilhelm ist für diejenigen da, die immer noch viel zu oft nicht mitgedacht werden: die Kinder dieser Frauen. „Viele Eltern sind überzeugt, dass ihr Nachwuchs nichts mitgekriegt haben“, sagt die Sozialarbeiterin der Kinderintervention, die es seit 2008 gibt.

Doch spricht man mit Wilhelm über ihre Arbeit, wird schnell deutlich, dass das ein Trugschluss ist. Auch für das Kölner Jugendamt ist das Miterleben von häuslicher Gewalt eine potenzielle Kindeswohlgefährdung. In über 60 Prozent der Fällen, die den Interventionsstellen bekannt werden, sind Kinder im Haushalt, heißt es vonseiten der Stadt.

Kinder verlieren ihr Urvertrauen

Experten sind sich einig: Kinder drücken sich zwar anders aus, kriegen aber trotzdem alles mit. Das Miterleben von Gewalt im eigenen Zuhause löst Stress und Ängste aus. Körperliche Reaktionen wie Durchfall, Kopfweh und Bauchschmerzen sind nicht selten. Elvira Müller, Wilhelms linksrheinische Kollegin, berichtet von Zehnjährigen, die wieder in die Hose machen, und über Fünfjährige mit Selbstmordgedanken. Sie ist Mitarbeiterin der 2008 gegründeten linksrheinischen Kinderinterventionsstelle des Sozialdienst katholischer Frauen (Skf).

Viele Kinder verlieren ihr Urvertrauen und haben später soziale Ängste. Jungen sind stark gefährdet, selbst irgendwann gewalttätig zu werden. Und Mädchen, die körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Eltern miterlebt haben, werden statistisch mehr als doppelt so häufig selbst Gewalt durch den (Ex-)Partner erleiden als andere Frauen. Trotz dieser erwiesenen Zusammenhänge werden die Kinderinterventionsstellen nicht staatlich gefördert, sondern durch Spenden, unter anderem von „wir helfen“ und Stiftungen finanziert.

Viele wollen die Mütter nicht zusätzlich belasten

„Das Wichtigste ist, mit den Kindern erst einmal ins Gespräch zu kommen“, sagt Müller. Wenn sie ein Kind in der Beratung anspreche, wie es Zuhause laufe, ist es meist froh, endlich einmal mit jemandem über das Erlebte reden zu können. Viele scheuen das Gespräch innerhalb der Familie, weil sie die Mutter und Geschwister nicht zusätzlich belasten wollen. Aber mit Müller reden sie, erzählen, wie sich die Eltern anschreien. Wie die Mutter weint. Wie der Vater nach der Trennung Telefonterror macht. Dass sie den Vater trotz allem, was er getan hat, vermissen. Oder ihn nicht mehr sehen wollen.

So war es bei Lucy. „Ich war richtig erleichtert, als meine Eltern sich endlich getrennt haben“, erzählt sie, die genau wie Zara (beide Namen wurden von der Redaktion geändert) einige Monate zu Wilhelm in die Beratungsstelle kam. Andererseits löst die Erleichterung auch ein schlechtes Gewissen aus. Darf sie überhaupt froh sein, wo ihre kleine Schwester den Vater so schrecklich vermisst? Solche Gedanken schwirren ihr ununterbrochen durch den Kopf. „Ich konnte mich eine Zeit lang sehr schlecht konzentrieren. Manchmal habe ich einfach nur Löcher in die Luft gestarrt“, sagt die 16-Jährige.

Konflikte gehen auch nach der Trennung weiter

Mit diesem Gedankenkarussell umzugehen, lernt sie bei Wilhelm. Sie ist für die Zeit nach der Trennung da. „Oft kommt die Wut und die Trauer erst, wenn man sich wieder sicher fühlt“, sagt die Jugendberaterin. Doch meist enden die Konflikte nicht mit dem Auszug des Täters. Nachdem Lucys Vater ausgezogen ist, steht er abends oft vor dem Haus, hört laut Musik und beobachtet ihre Mutter. Manchmal ruft er Lucy an, fragt nicht nach ihrem Schultag, sondern nach ihrer Mutter, will wissen, ob sie schon einen neuen Partner hat.

Einmal habe sie vor Wut auf ihn das Handy gegen die Wand geworfen, erinnert Lucy sich. Die 16-Jährige ist selbstbewusst, redet über Menschen und Beziehungen, als hätte sie längst verstanden, was andere womöglich nie lernen. Dass ihr Vater verantwortlich ist für sein Handeln. Nicht sie. Dass es seine Aufgabe wäre, die Beziehung zu ihr und ihrer Schwester trotz Schwierigkeiten aufrechtzuerhalten. Dass es falsch ist, ein 12-jähriges Mädchen für sein Unglück verantwortlich zu machen.

Vermittlung in Musik- und Kunsttherapie

Besonders der weitere Umgang mit dem Vater ist in der Beratung von Wilhelm von der Diakonie Michaelshoven und Müller vom Skf oft ein Thema. Beide begleiten die Kinder und Jugendlichen auch zu Gerichtsprozessen und schreiben Stellungnahmen, wie sie die psychische Gesundheit einschätzen und welche Therapien sinnvoll wären.

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„Ich konnte Frau Müller immer anrufen. Sie hat sich alles angehört“, erzählt eine Mutter, deren heute siebenjährige Tochter ein paar Monate in die Kinderinterventionsstelle ging. Das Mädchen hatte stark Schlafstörungen und hat in der Schule kaum gesprochen. Anwälte und Jugendamtsmitarbeiter hätten oft nur ihren Job gemacht, Müller hätte sich immer für die Interessen der Kinder engagiert. Sie kümmert sich auch um Musik- und Kunsttherapie, vermittelt in Fußballvereine oder zu einem Psychologen. Damit die Kinder gestärkt werden, positive Beziehungen erfahren und wieder mit erhobenem Kopf durchs Leben gehen.

Neue Jahresaktion von „wir helfen“

Mit unserer neuen Aktion „wir helfen: damit unsere Kinder vor Gewalt geschützt werden“ bitten wir um Spenden für Projekte, die sich für ein friedliches und unversehrtes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Region einsetzen. Kein Kind in unserer Gesellschaft sollte Gewalt schutzlos ausgeliefert sein.

Die Spendenkonten lauten: „wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“ Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 370502990000 162155 Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 37050198 0022252225

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