„Heimkinder“Zu Besuch in einer Wohngruppe im Kölner Süden

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Die Bewohnerinnen der „WG Kompass“ der Diakonie Michaleshoven Dajana und Toni sitzen mit ihrer Erzieherin Alisha Anderson auf einem Sofa

Dajana (links) und Toni mit ihrer Erzieherin Alisha Anderson in der „WG Kompass“ der Diakonie Michaleshoven.

121.000 Kinder und Jugendliche leben hierzulande nicht bei ihren Eltern, sondern in einer Wohngruppe. Wir haben die „WG Kompass“ bei Köln besucht.

„Der Begriff Kinderheim ist völlig veraltet und auch das Bild, das manche von dieser Institution im Kopf haben, existiert nicht mehr“, stellt Alisha Anderson klar. „Bei uns und auch anderswo gibt es längst keine Schlafsäle mehr mit 20 Betten, in denen Nonnen zum Wecken das Deckenlicht anmachen und die Kinder anschließend zur Morgenandacht treiben“, sagt die Erzieherin in der „WG Kompass“ der Diakonie Michaelshoven, wo Kinder und Jugendlichen mit Diabetes Typ 1 und 2 und Anpassungsstörungen gemeinsam in einer großen Wohnung leben — samt Einzelzimmern, einer Küche und einem Wohnzimmer.

Das selbstständige Leben trainieren

Die Diakonie Michaelshoven betreibt in Köln und Umgebung 354 Plätze für Kinder, Jugendliche und junge Menschen. Insgesamt gibt es 47 voll- und zwei teilstationäre Wohngruppen. Hinzukommen sogenannte Trainings-Appartements, in denen die Jugendlichen selbstständig leben, aber im Notfall noch auf niederschwellige Betreuung zurückgreifen können.

Die Kinder und Jugendlichen, die hier ein neues Zuhause auf Zeit finden, sind zwischen fünf und 18 Jahren alt und werden von den Jugendämtern „überwiesen“. Die Entscheidung, die Kinder von ihren Eltern zu trennen, ist eine letzte Option. Im Vorfeld werden zahlreiche Maßnahmen in Angriff genommen, um die Familien bei der Erziehung zu unterstützen.

Ich bin hier, weil es zu Hause häufig körperliche Auseinandersetzungen gab, hier ist das Leben viel entspannter und einfacher.
Toni, 16, Bewohnerin der Wohngruppe „WG Kompass“ in Michaelshoven

„Ich bin hier, weil es zu Hause permanent Streit mit meiner Mutter und meiner Oma gab, häufig körperliche Auseinandersetzungen, und die Stimmung eigentlich immer gereizt war. Hier geht es mir wesentlich besser, man hört mir zu, redet mit mir über Gutes aber auch über meine Fehler. Das Leben ist viel entspannter und einfacher. Ich erhalte viel Wertschätzung und Unterstützung“, sagt die 16-jährige Toni, die vor zwei Jahren nach einer langen Odyssee von Hilfsmaßnahmen und Klinikaufenthalten in eine Wohngruppe der Diakonie Michaelshoven gezogen ist.

Erzieherinnen und Erzieher als Ersatzfamilie

Die 16-Jährige besucht die Gesamtschule in Köln-Rodenkirchen, macht aktuell ein Praktikum im Tierheim und möchte Tierpflegerin werden. Ihre Mutter sieht sie alle zwei bis drei Wochen. „Ich treffe meine Mutter inzwischen ohne Bauchschmerzen, weil ich die Sicherheit habe, dass ich jederzeit hier nach Michaelshoven zurückkann. Die Erzieherinnen und Erzieher hier sind für mich wie eine Ersatzfamilie. Sobald ich eine Lehrstelle habe, würde ich gerne in ein Trainings-Appartement ziehen,“ sagt Toni, die sehr gerne zeichnet und in der Freizeit in der Community der Cosplayer unterwegs ist.

Ein wichtiges Anliegen der Diakonie Michaelshoven ist es, dass die Eltern-Kind-Beziehung während der Unterbringung in der Wohngruppe nicht abbricht. Das übergeordnete Ziel ist die Rückführung ins Elternhaus. „Das hier ist nur eine Form der Hilfe zur Erziehung. Die klaren Aufträge kommen vom Jugendamt, ob Rückführung oder Stabilisierung. Wir führen Elterngespräche und geben diesen auch Strategien an die Hand, damit sie nicht immer wieder in die gleichen Erziehungsfallen tappen“, sagt Alisha Anderson, die gemeinsam mit acht weiteren Kolleginnen und Kollegen rund um die Uhr für eine Wohngruppe verantwortlich ist.

Kindeswohl einer Diabetes-kranken Teenagerin gefährdet

„Ich bin jetzt fünf Monate hier und habe Heimweh. Ich weine jede Nacht, weil ich nach Hause will. Ich war ziemlich dick, wog über 85 Kilogramm, habe nicht auf meine Ernährung aufgepasst und alles in mich reingestopft“, sagt Dajana, die vor zwei Jahren an Diabetes Typ 2 erkrankt ist. Die 13-jährige hat noch drei Geschwister, die Eltern sind überfordert, sich mit der Krankheit ihrer jüngsten Tochter auseinanderzusetzen. Nach einem Klinikaufenthalt hatten die Ärzte wegen des starken Übergewichts der damals 12-Jährigen und der daraus folgenden Diabetes das Jugendamt alarmiert, da sie eine Kindeswohlgefährdung vermuteten.

Dajana ist zunächst in eine zweiwöchige Maßnahme der Inobhutnahme gekommen und anschließend in die Wohngruppe. Hier wird der Gesundheitszustand des Mädchens engmaschig begleitet, es gibt einen Ernährungsplan und einen geordneten Tagesablauf mit geregelten Mahlzeiten. Erste Erfolge sind sichtbar. Dajana hat inzwischen 15 Kilogramm abgenommen, es fehlen noch fünf weitere. Damit kommt sie ihrem größten Wunsch, wieder nach Hause zu dürfen, einen Schritt näher.

Feste Tagesstruktur, keine Strafen, aber Konsequenzen

„Bei uns in den Wohngruppen arbeiten ausschließlich Fachkräfte. Wir stehen mit dem internen Sozialdienst im engen Kontakt und arbeiten mit systemischen Beraterinnen und Beratern. Wir sind bestens vernetzt“, sagt Erzieherin Anderson, die nebenbei Soziale Arbeit studiert.

„Die feste Tagesstruktur ist für mich sehr wichtig. Vorher lebte ich einfach vor mich hin, habe häufig in der Schule gefehlt. Die sechste und siebte Klasse habe ich gerade so geschafft. Seitdem ich hier eingezogen bin, geht es mit meinen Noten wieder bergauf. Hier gibt es keine Strafen, nur Konsequenzen. Wenn man sich nicht an die Hausregeln hält, muss man Versäumtes nacharbeiten, das geht von der Freizeit ab“, so Toni, die sich auch nicht schämt, ihren Mitschülerinnen zu erzählen, dass sie nicht bei ihren Eltern wohnt. Auch die Regeln für die Ausgangszeiten, in der Woche bis 21 Uhr, am Wochenende bis 22 Uhr, sind für die 16-Jährige kein Problem.

Die richtigen Weichen für die Zukunft stellen

„Wenn die Mädchen nicht mehr wiederkommen, geben wir eine Vermisstenmeldung auf. Das passiert aber ganz selten. Wir als Einrichtung sind auf die Mitwirkung der jungen Menschen angewiesen, nur dann können wir auch helfen und die richtigen Weichen für ihre Zukunft stellen“, sagt Anderson, die seit mehr als zehn Jahren in der Diakonie Michaelshoven arbeitet und für die meisten Wohngruppenmitglieder eine wichtige Bezugsperson ist. Die Wohngruppen der Diakonie Michaelshoven werden vom Jugendamt finanziert. Von dem Geld werden unter anderem die Tagesgeldsätze für die Bewohnerinnen und Bewohner, die Kleidung und zum Teil auch Ferienaufenthalte bezahlt. Für besondere Projekte, Hobbys oder andere Freizeitaktivitäten reichen die Ressourcen häufig nicht aus, hier sind die Einrichtungen auf Spenden wie auch von „wir helfen“ angewiesen.


Warum 207.000 Kinder und Jugendlich hierzulande nicht bei ihren Eltern leben

  • Betroffene: Rund 207.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2022 zumindest zeitweise außerhalb der eigenen Familie aufgewachsen: Rund 121 000 von ihnen lebten in einer Wohngruppe (ehemals Heim), weitere 86 000 in einer Pflegefamilie. Die gute Nachricht: Im Vergleich zum Vorjahr waren das 2900 oder ein Prozent weniger Betroffene.
  • Alter: Mit 80 Prozent waren die meisten von ihnen minderjährig. Fast die Hälfte (48 Prozent) war unter 14 Jahren, 20 Prozent galten als junge Erwachsene am Übergang in ein selbstständiges Leben.
  • Wohngruppe oder Pflegeeltern: Kinder bis zu neun Jahren wurden den Statistikern zufolge häufiger in Pflegefamilien betreut, ab dem zehnten Lebensjahr überwog die Erziehung in einer Wohngruppe. Die Unterbringung in der Pflegefamilie endete im Schnitt nach über vier Jahren (50 Monate), der Aufenthalt in einer Wohngruppe nach knapp zwei Jahren (21 Monate).
  • Mehr Jungen als Mädchen: Insgesamt wurden mehr Jungen (54 Prozent) als Mädchen außerhalb der eigenen Familie erzogen.
  • Herkunftsfamilien: 50 Prozent der Eltern der betroffenen Kinder und Jugendlichen waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes alleinerziehend. Bei jeweils knapp einem weiteren Fünftel (18 Prozent) der Herkunftsfamilien handelte es sich um Elternteile in neuer Partnerschaft oder um zusammenlebende Elternpaare. Die meisten dieser Kinder und Jugendlichen bewegten sich nahe am Existenzminimum. In 65 Prozent aller Fälle lebten die Betroffenen oder ihre Herkunftsfamilien vollständig oder teilweise von staatlichen Transferleistungen. Besonders hoch war auch hier der Anteil bei Alleinerziehenden-Familien, von denen 75 Prozent entsprechende, staatliche Leistungen bezogen.
  • Gründe: Der häufigste Grund für eine Unterbringung in einer Wohngruppe oder bei Pflegeeltern war, dass die Kinder und Jugendlichen als nicht ausreichend versorgt galten, etwa weil die Eltern, ein Elternteil oder eine andere Bezugsperson durch Krankheit ausfiel oder die jungen Menschen alleine aus dem Ausland eingereist waren (25 Prozent). An zweiter Stelle stand mit 17 Prozent die Gefährdung des Kindeswohls beispielsweise durch Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, psychische Misshandlung oder sexuelle Gewalt, gefolgt von der eingeschränkten Erziehungskompetenz der Eltern mit rund 13 Prozent. (kro)
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