Immer mehr Jugendliche sind magersüchtig. Ein Gespräch mit Axel Gerschlauer vom Bundesverband der Kinder- und Jugendärzt*innen e.V. (BVKJ)
Interview„Essstörungen nehmen bei jungen Menschen dramatisch zu“

Im Vergleich zum Jahr 2019 sind 70 Prozent mehr Jugendliche in NRW wegen einer Essstörung in Behandlung.
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Laut Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein sind aktuell 70 Prozent mehr Jugendliche unter 14 Jahren im Vergleich zum Jahr 2019 wegen Essstörungen in einer Behandlung. Damit sind mehr junge Menschen von Essstörungen betroffen als von allen anderen psychischen Behandlungsfällen. Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?
Axel Gerschlauer: Wir sehen seit der Corona-Pandemie eine dramatische Entwicklung von Essstörungen. Auch wenn deren Ursachen vielschichtig sind, gab es in dieser Zeit doch noch andere ungünstige Faktoren: Im Lockdown waren die Schulen geschlossen, den Kindern fehlten Tagesstrukturen, soziale Kontakte waren nur noch online möglich. Kinder und Jugendliche verbrachten viel Zeit in den sozialen Medien – ein gefährlicher Auslöser. Alle wollen schön, cool, schlank und sexy sein. Das alles ist ein Geschenk für Teenager, besonders anfällig sind Mädchen. Die meisten Betroffenen, die wir in unserer Praxis sehen, sind zwischen 12 und 15 Jahren alt. Früher habe ich alle sechs Monate einen Jugendlichen mit Essstörung in meiner Praxis gesehen, aktuell haben wir fünf, die regelmäßig kommen.
Wann spricht man von einer Essstörung?
Die Diagnosen müssen sorgfältig und nach gründlicher Untersuchung gestellt werden. Es gibt verschiedene Formen der Essstörung, dazu zählen neben der Magersucht auch die Bulimie, die Binge-Eating-Störungen und Mischformen. Die Anorexia nervosa, die klassische Magersucht, ist die häufigste Essstörung bei Jugendlichen und hat eine Sterblichkeitsquote von zehn Prozent. Das ist fatal.
Weshalb diese hohe Stabilität, stößt die Medizin an ihre Grenzen?
Magersucht ist eine Krankheit, die man nicht einfach mit Medikamenten behandeln kann. Die Kinder und Jugendlichen haben zunächst keine Krankheitseinsicht, die wenigsten würden zugeben, dass sie magersüchtig sind. Der Impuls, sich ärztliche Hilfe zu suchen, muss meist von außen kommen, von den Eltern, aus den Schulen, Sportvereinen, dem Bekanntenkreis. In schweren Fällen sind die Körperfunktionen durch die Mangelernährung so beeinträchtigt, dass Betroffene ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen, um dort an Gewicht zuzunehmen, der Körper muss wieder weitgehend normal funktionieren, erst dann kann man mit der Therapie beginnen.
Wie groß sind die Heilungschancen bei Essstörungen?
Je früher man eine Magersucht erkennt, desto besser kann man die Betroffenen behandeln. Ich als Kinderarzt bestimme als einen Anhaltspunkt zunächst den Body Mass Index (BMI), der bei Kindern in Relation zum Alter berechnet wird, das ist auch etwas komplizierter als bei Erwachsenen. Magersucht ist eine schwere Diagnose, deshalb sind bei jedem Patienten, bei jeder Patientin, mehrere Berufsgruppen involviert, dazu zählt nicht nur der Kinderarzt, sondern vor allem auch der Kinder- und Jugendpsychiater und die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Diese drei Fachexperten, beziehungsweise Fachexpertinnen arbeiten idealerweise zusammen und kümmern sich als Team um das kranke Kind.

Axel Gerschlauer.
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Es handelt sich hier um eine der schlimmsten Krankheiten, die ich in meiner Praxis sehe. Das scheint in der Gesellschaft noch nicht ausreichend angekommen zu sein.
Wie erkennen Eltern und andere Nahestehende, dass ein Kind magersüchtig ist?
Eine Essstörung ist ein schleichender Prozess, sie kommt nicht über Nacht und definiert sich am Anfang über das Gewicht, eine gestörte Selbstwahrnehmung und ein gestörtes Essverhalten. Hinweise sind etwa, wenn das Kind sich andauernd mit der Ernährung beschäftigt, sich häufig wiegt, exzessiv Sport macht und sich ohne Grund für dick hält. Dann sollten Eltern aufmerksam werden und einen Kinderarzt konsultieren.
Was halten Sie von der Idee, in den sozialen Medien junge Menschen als medizinische Influencerinnen, respektive Influencer einzusetzen, die helfen, dass Jugendlichen ihr Schönheitsideal hinterfragen, und über Essstörungen aufgeklärt werden?
Das kann ein kleiner Baustein in der Aufklärung sein, aber grundsätzlich brauchen die betroffenen jungen Menschen professionelle Hilfe. Diese Krankheit sollte man ernst nehmen, Essstörungen sind gefährlich und können lebensbedrohlich sein. Es handelt sich hier um eine der schlimmsten Krankheiten, die ich in meiner Praxis sehe. Das scheint in der Gesellschaft noch nicht ausreichend angekommen zu sein.
In den Fußgängerzonen der Städte sieht man viele sehr beleibte Kinder und Jugendliche, haben sie auch eine Essstörung?
Nein, bei der Adipositas, auch Fettleibigkeit handelt es sich genau genommen nicht um eine Essstörung, sondern um starkes Übergewicht, bedingt durch eine übermäßige Ansammlung von Fettgewebe im Körper. Dieses Krankheitsbild ist sehr komplex und hat auch ganz andere Ursachen als eine Essstörung.
„Dieser Kraftakt ist alleine nicht zu schaffen“: Eine Kölner Mutter berichtet von der Magersucht ihrer Tochter
Es ist der Albtraum aller Eltern: Das eigene Kind hört plötzlich auf zu essen, wird immer dünner, so lange, bis kein Weg mehr an einem Klinikaufenthalt vorbeiführt. Seit der Corona-Pandemie haben immer mehr Eltern diesen Albtraum erlebt. Eine davon ist Familie Bertram (Name geändert).
Ihre Tochter Lena war früher ein fröhliches Kind. Die 14-Jährige machte gerne Sport, traf sich mit ihren Freundinnen und war eine gute Schülerin. Irgendwann bemerkte die Mutter eine Veränderung. „Lena wirkte in sich gekehrt, hat wenig gegessen. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten hat sie Fettes aussortiert, widerwillig in dem Essen rumgestochert, keine Schokolade oder Kugel Eis gewollt, und fing an, Kalorien zu zählen. Immer wenn ich nachfragte, kam die Antwort, sie habe schon gegessen“, erzählt Martha Bertram.
Als Lena immer blasser und dünner wurde und sich zunehmend zurückzog, hat die besorgte Mutter mit den Freundinnen ihrer Tochter Kontakt aufgenommen. Die Mädchen waren zunächst zurückhaltend, wollten Lena nicht in den Rücken fallen, aber irgendwann bestätigte sie auch, dass Lena seit einiger Zeit ständig von Diäten sprach, Tik-Tok-Videos schaute und sich hässlich und zu dick fand. „Ich habe versucht, mit meiner Tochter zu reden, doch sie ist mir regelmäßig aus dem Weg gegangen, hat alle Gespräche und Ratschläge abgeblockt. Immer wieder ertappte ich Lena dabei, wie sie auf die Waage stieg oder sich vor dem Spiegel betrachtete. Ich fühlte mich machtlos“, berichtet die 45-jährige Mutter.
Bald meldete sich auch die Klassenlehrerin bei den Eltern, denn Lena war im Unterricht unkonzentriert, reizbar und ihre Leistungen verschlechterten sich. In wenigen Monaten hungerte Lena acht Kilo herunter – bei einem 13-jährigen Mädchen einen enormen Gewichtsverlust. Sie war so dürr und kraftlos, dass sie es nicht mehr zur Schule schaffte. Schließlich holten sich die Eltern professionelle Hilfe. Der Kinderarzt erkannte den Ernst der Lage, entdeckte Magersucht und schlug Alarm. Lena bekam einen Termin bei einem Kinder- und Jugendpsychiater.
„Unsere Tochter war zunächst uneinsichtig und weigerte sich, die Ratschläge zu befolgen. Als die Ärzte sie vor die Alternative stellten, sich ambulant stärkten, um einen Ernährungsplan zu halten oder eine Klinik zu besuchen, machte es endlich einen Klick. Sie wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus.“ Familie Bertram entschied sich für eine ambulante Behandlung.
Dank der engmaschigen Betreuung durch Ärzte und Therapeutinnen hat Lena es geschafft, wieder normal zu essen und langsam zuzunehmen. „Magersucht ist heilbar, aber sehr, sehr langwierig, das ist ein Marathonlauf mit allen Höhen und Tiefen. Man muss als Familie durchhalten, das Kind tatkräftig unterstützen. Dieser Kraftakt ist aber auch nicht alleine zu schaffen, man braucht künstliche professionelle Hilfe“, appellierte Martha Bertram.
Hier gibt es Hilfe im Internet: