Kölner Gefängnis-Theater„Perspektiven bieten, statt nur zu bestrafen“

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Fünf Inhaftierte in schwarz-weißen Kostümen stehen auf der Bühne der JVA Ossendorf, eine von ihnen muss weinen.

Große Gefühle während der Aufführung in der JVA Ossendorf

Das Kölner „Sommerblut Kulturfestival“ beteiligt sich an einem revolutionären, europaweiten Projekt für Inhaftierte. Zu Besuch in der JVA Ossendorf.

Das Projekt „All Hands On Stage“ („Alle Mann auf die Bühne“) rüttelt auf – und es erzeugt gehörig Gänsehaut. Während an diesem Wintervormittag das Leben draußen vor den stählernen Gefängnistoren der Justizvollzugsanstalt (JVA) Ossendorf seinen besinnlich-hektischen Gang geht, präsentieren im schmucklosen Inneren 17 Inhaftierte, darunter auch eine 19-Jährige, in einer bewegenden Performance die Ergebnisse eines Theater- und Musikworkshops mit Musiker Rezas Askari und Regisseurin Elisabeth Pleß vom Kölner Sommerblut Kulturfestival.

Kölner Projekt: Gegen das Schwarz-Weiß-Denken

Ausgestattet mit selbst geschriebenen Texten und selbst gestalteten Kostümen in Schwarz-Weiß – demonstrieren die elf Frauen und sechs Männer in der 30-minütigen Werkschau auf eindringlich-kreative Art und Weise, dass das Leben, Denken und Urteilen aus mehr als diesen beiden Farben bestehen sollte. Wie sich Unfreiheit anfühlt, Einsamkeit und Vorfreude. Wie vielfältig Glück sein kann.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler der JVA Ossendorf laufen kreuz und quer über die Bühne und tragen Stühle mit sich.

Auf der Suche nach einem Platz (in der Gesellschaft)

Und wo die Grenzen der Geduld verortet sind – bei sich selbst und auch beim Publikum. Wenn das etwa konfrontiert wird mit gefühlt unendlichem Schweigen der Darbietenden. Mit ihrer rastlosen Suche nach einem Platz in der Stuhlreihe (die symbolisch für die Gesellschaft stehen könnte). Mit ihren Sehnsüchten und Emotionen, die immer wieder in Dialog treten miteinander und mit der Musik. Wie viel Stille kann ein Mensch aushalten? Und wie viel Isolation?

Inhaftierte sind mehr als die Summe ihrer Straftaten

Es geht um Liebe und Leiden („Trauer ist dunkel“), um das Jetzt und Bleiben („Vermissen tut uns gut“), um Schuld und Vergeben („Urteile nicht über andere, nichts geschieht ohne Grund“), um schädlichen Einfluss („Warum gibt es schlechte Freunde?“), gute Gemeinschaften („Hier habe ich Respekt gelernt“). Und darum, dass Menschen auf der Bühne stehen, die eine lebens- und liebenswerte Perspektive verdient haben, weil sie mehr sind als die Summe ihrer Straftaten.

Jeder Mensch hat ein Recht auf einen Job, der ihm Würde verleiht und für den er Verantwortung übernehmen kann
Hannah Behr, Projektleiterin

„Ziel des Projekts ist unter anderem auch durch eine künstlerische Tätigkeit die Würde wieder herzustellen – und durch das Erlernen eines Berufs auf und hinter der Bühne, etwa im Bereich (Ton-)Technik, Kostüm-, Maskenbild oder Beleuchtung. Jeder Mensch hat ein Recht auf einen Job, der ihm Würde verleiht und für den er Verantwortung übernehmen kann. Wir sind davon überzeugt, dass Theaterarbeit Inhaftierten eine gute Perspektive für ihr Leben danach geben kann“, sagt Projektleiterin Hannah Behr.

Gefühle und Respekt auf der Bühne der JVA Ossendorf

Auch dass Theater Menschen in Unfreiheit eine Chance bietet, ihre Gefühle auf eine andere Art auszudrücken und ihre Energien mit Respekt für andere zu kanalisieren, beweisen die 17 JVA-Schauspielerinnen und Schauspieler an diesem Vormittag sehr eindrücklich – wenn etwa der 26-jährigen Sarah M. (Namen geändert) während ihres Gesang-Solos die Tränen über die Wangen rollen. Wenn man den Gemeinschaftssinn, der auf der Bühne und in den Proben davor entstanden ist, selbst in der hintersten Publikumsreihe mitfühlen kann. Oder wenn sich ein Teilnehmer nach der Aufführung bei allen Verantwortlichen bedankt für die „Zeit, in der wir vergessen durften, wo wir gerade sind.“

Durch den Workshop habe ich erleben dürfen, was Gemeinschaft und wertschätzender Umgang bedeutet, auch dieses Gefühl kannte ich nicht
Sarah M. (Name geändert), 26, Inhaftierte der JVA Ossendorf

Dass Theaterarbeit „der vielversprechendste Weg ist, Menschen auf einen guten Weg zu bringen“, wie Regisseurin Elisabeth Pleß betont, ahnt, wer nach der Performance im Gespräch mit den Teilnehmenden erfährt, dass Sarah M. etwa noch nie zuvor in ihrem Leben erfahren durfte, dass sie etwas (vollbringen) kann und liebenswert ist. „Ich habe durch das Theaterspielen zu mir selbst gefunden und kann endlich meine Vergangenheit loslassen. Die war sehr einsam, ohne Hoffnung und Selbstbewusstsein. Durch den Workshop habe ich erleben dürfen, was Gemeinschaft und wertschätzender Umgang bedeutet, auch dieses Gefühl kannte ich nicht.“

Hier habe ich gelernt, dass man in Gemeinschaft viel erreichen, sich im Leben auch mal auf andere verlassen und mit Menschen zusammenleben kann
Christine S. (Name geändert), 19, Inhaftierte der JVA Ossendorf

Sarah wird Gesangsunterricht nehmen, ihr Fachabitur machen und von einer Zukunft auf der Bühne träumen. Das tut Christine S., 19, zwar nicht. Sie hält an ihrem Traumjob Kfz-Mechatronikerin fest, nimmt aber für sich sehr viel mit aus dem Theaterprojekt: „Zu wissen, dass man in Gemeinschaft viel erreichen, sich im Leben auch mal auf andere verlassen und mit Menschen zusammenleben kann.“

Grenzen der Sehgewohnheiten überschreiten

Wie jedes „Sommerblut“-Projekt arbeitet auch diese beeindruckende Performance an den Grenzen konventioneller Sehgewohnheiten — und überschreitet sie, mit dem Ziel, gesellschaftliche Diskussionen in Gang zu setzen. In diesem Fall darüber, ob es nicht sinnvoller wäre, Inhaftierten mithilfe von Kultur- und Theaterarbeit Perspektiven zu eröffnen, statt sie „nur“ zu bestrafen und wegzusperren.

Schauspielerinnen und Schauspieler der JVA Ossendorf umarmen sich auf der Bühne.

Das Gefängnis-Theaterprojekt des Kölner Sommerblut Festivals hat Gemeinschaft entstehen lassen.

Die Werkschau ist die erste öffentliche Präsentation in Vorbereitung einer Theaterperformance, deren Premiere am 13. Mai im Rahmen des Sommerblut Festivals in der JVA über die Bühne gehen wird. Und sie ist Teil des europäischen Gefängnis-Theater-Projekts „All Hands On Stage“ (AHOS), an dem neben den deutschen Teams des Sommerblut Festivals und des Berliner „Aufbruch“-Gefängnistheaters Partner aus Italien, Serbien, Polen und Griechenland beteiligt sind.

Revolutionäres, europaweites Projekt

„AHOS soll revolutionär, am Beispiel von Theaterarbeit, Justizvollzugsanstalten in Europa für Kultur als Arbeitssektor sensibilisieren. Es rückt damit ein sensibles Thema in den Mittelpunkt: den sozialen Nutzen, den Theater in Gefängnissen als Instrument der Wiedereingliederung für die beteiligten Menschen und für die Gesellschaft als Ganzes schaffen kann“, sagt Sommerblut-Festival-Leiter Rolf Emmerich.

Schließlich würden die meisten Insassen nach Ablauf ihrer Haftstrafe vor der schwierigen Situation befinden, das im Gefängnis erlernte Know-how anzuwenden und Arbeit zu finden. Längst bekannt ist, dass der Mangel an Möglichkeiten zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft und damit zum Aufbau von Stabilität und Sicherheit ein fruchtbarer Boden für Rückfälle ist.

Inhaftierte zum Theater bringen

Im Rahmen des ASOS-Projekts sollen inhaftierte Menschen in Gefängnissen aller Partnerländer in der Theaterarbeit ausgebildet werden. Außerdem werden die Partnerorganisationen Arbeitsplätze oder Praktika in den jeweiligen Ländern vermitteln und die „Freigelassenen“ bei der Eingliederung in den Berufsalltag begleiten. Hierfür ist eine Projektdatenbank geplant, die Unternehmen und Künstler auflistet, die im Gefängnistheater tätig sind.

Neben den Inszenierungen mit Publikum in allen Haftanstalten (in Modena sogar im Staatstheater) wird ein internationaler Wissensaustausch zwischen den künstlerischen Leitungen der Partnerländer etabliert etwa in Form von gegenseitigen Hospitanzbesuchen und einem geplanten Handbuch, das interessierten Organisationen in Europa einen Leitfaden für die Etablierung des Gefängnis-Theaters an die Hand geben soll. Darüber hinaus sind regelmäßige Info- und Netzwerkveranstaltungen geplant, um das Projekt, die Herangehensweise und seine Vision einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen.

Leidenschaft und Liebe auf der Gefängnisbühne

„So viel blindes Vertrauen, Leidenschaft und die Bereitschaft ganz viel zu geben, auch Liebe, mitzuerleben, und das an einem Ort, an dem man das nicht erwarten würde, ist schon sehr faszinierend“, bringt Regieassistentin Lilian Laval den Charme des Projekts auf den Punkt.

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