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Mental Health„Unsere Kinder leben im Dauerstress“

4 min
Ein überfordertes Mädchen mit Schulranzen schreit und hält sich die Ohren zu.

30 Prozent der Schulkinder sind unter Dauerstrom. 

Jugendexperte Florian Böll appelliert im Interview zum Schulstart, die seelische Gesundheit der jungen Generation nicht aufs Spiel zu setzen.

Herr Böll, eine aktuelle Civey-Studie belegt, dass sich jedes zweite Grundschulkind zum Schulstart gestresst oder überfordert fühlt. Sie sagen sogar: Rund 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind permanent unter Dauerstrom. Besonders betroffen sei die Altersgruppe zwischen 12 und 17 Jahren. Wie definieren Sie diesen Dauerstress?

Dauerstress bedeutet, dass Kinder oder Jugendliche über einen längeren Zeitraum hinweg in einem Zustand permanenter Anspannung leben, ohne ausreichende Erholungsphasen. Gemeint ist nicht der normale Stress vor einer Klassenarbeit, sondern ein dauerhafter Alarmzustand von Körper und Geist. Viele Jugendliche berichten, dass sie selbst in ihrer Freizeit kaum noch zur Ruhe kommen.

Was sind die Hauptursachen?

Es gibt viele Gründe, aber die Hauptfaktoren sind meines Erachtens nach schulischer Leistungsdruck, die ständige Vergleichbarkeit durch die Sozialen Medien und übervolle Freizeitpläne. Jugendliche fühlen sich permanent bewertet – in der Schule von Noten, im Netz von Likes. Dazu gesellen sich durchgetaktete Nachmittage mit Hobbys und Verpflichtungen. Es bleibt kaum noch Zeit für Erholung oder Nichtstun. Diese Daueranspannung macht langfristig krank – psychisch wie körperlich.

Welche Warnsignale deuten auf Dauerstress hin?

Typische Anzeichen sind Stimmungsschwankungen, häufige Bauch- oder Kopfschmerzen ohne eine organische Ursache, Schlafprobleme oder Appetitveränderungen. Manche Kinder wirken antriebslos und ziehen sich zurück, gehen nicht mehr regelmäßig in die Schule, andere sind ständig angespannt oder aggressiv. Auch wenn ein Kind plötzlich keine Freude mehr an Hobbys hat, ist das ein Alarmsignal.

Gibt es in puncto Stressbewältigung Unterschiede zwischen Mädchen und Jungs?

Mädchen neigen eher dazu, Stress nach innen zu richten, sie grübeln viel, ziehen sich zurück oder leiden unter psychosomatischen Beschwerden. Jungen reagieren häufiger nach außen – sie werden unruhig oder aggressiv.

Verantwortlich für diesen Dauerstress sind also Soziale Medien und die Schulen?

Viele Faktoren spielen mit, doch ein großer Teil des Drucks wird auch von den Eltern erzeugt. Besonders Akademiker-Eltern, Selbstständige und Eltern mit hohem Einkommen berichten überdurchschnittlich häufig von Stress bei ihren Kindern. Oft meinen sie es gut, doch wenn der Erfolgswunsch zu groß wird, entsteht enormer Leistungsdruck, auch schon im Kindergarten. Beispiele sind volle Terminkalender mit Sprachkurs, Sport und Musik. Auch ständige Vergleiche wie ‚Warum kann Anna das schon, und du nicht?‘, oder Forderungen wie‚ Du musst in Mathe eine Eins schreiben, sonst wird das nichts‘, erzeugen bei Kindern das Gefühl, nie genug zu sein und führen zu unterschwelligem Dauerstress. Kinder spüren diesen Ehrgeiz und fühlen sich schnell überfordert, weil sie in der Schule und zu Hause funktionieren müssen.

Jugendexperte Florian Böll ist Mentor, Trainer, Entertainer für Jugendliche und Menschen, die mit Jugendlichen zusammen leben oder arbeiten.

Wie wirkt sich Dauerstress langfristig auf die Entwicklung der Kinder aus?

Dauerstress überlastet das kindliche Nervensystem. Auf lange Sicht kann das zu Angststörungen, Depressionen oder psychosomatischen Beschwerden führen. Lern- und Konzentrationsfähigkeit nehmen ab. Wenn Kinder ständig im Überlebensmodus sind, fehlt ihnen Energie für Kreativität und soziale Beziehungen. Zudem erhöht Dauerstress das Risiko für Erkrankungen im Erwachsenenalter.

Was kann man tun, um diesem dauernden Alarmzustand vorzubeugen?

Eine Zauberformel gibt es nicht, aber viele wirksame Ansätze. Körperarbeit ist essenziell, weil Stress immer auch körperlich ist. Atemübungen, Bewegung oder Entspannungstechniken bringen Kinder schnell aus dem Alarmmodus. Rollenspiele helfen, Konflikte zu üben und Selbstvertrauen aufzubauen. Kommunikationstrainings stärken die Fähigkeit, sich abzugrenzen, klar Nein zu sagen und Bedürfnisse zu äußern.

Was bringen Sie den jungen Menschen in Ihren Kursen konkret bei?

Wir vermitteln einfache, sofort umsetzbare Tools, die das Selbstbewusstsein stärken, Stressbewältigungstechniken einüben und Selbstbehauptung trainieren. Wenn Kinder lernen, klar aufzutreten, ihre Bedürfnisse zu benennen und im Notfall auch mal Stopp zu sagen, reduziert das ihr Stressgefühl enorm. Sie fühlen sich weniger ausgeliefert und gewinnen Handlungssicherheit. Eltern lernen von uns Techniken des aktiven Zuhörens, um dem Kind Raum zu geben, Gefühle ernst zu nehmen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln, statt vorschnell zu bewerten.

Welche Veränderungen im Bildungssystem oder auch Alltag wären hilfreich zur Stressreduktion von Kindern?

Wir brauchen mehr Zeit für Persönlichkeitsbildung und weniger Stoffdruck. Stressprävention sollte genauso wichtig sein wie Mathe oder Deutsch. Kleinere Klassen, mehr Schulsozialarbeit und feste Einheiten für Achtsamkeit und Kreativität wären ein guter Anfang. Zudem müssen Pausen echte Pausen sein. Und Schulen sollten stärker mit Eltern zusammenarbeiten und sich häufiger Hilfe und Rat von Experten holen.

Was muss gesellschaftlich passieren?

Dauerstress bei Kindern ist in der Tat kein individuelles Problem, es ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Eltern, Schulen und Politik müssen dafür dringend an einem Strang ziehen. Wir brauchen Programme, die Resilienz und emotionale Kompetenzen fördern. Eltern benötigen Tools, Schulen Zeiträume zur Entlastung, und die Politik muss investieren. Wenn wir Kindern wieder Räume geben, in denen sie Kind sein dürfen, nehmen wir ihnen den Druck. Nur so gelingt es, jungen Menschen die Werkzeuge mitzugeben, die sie brauchen, um stark und gesund ins Leben zu starten. 


Zur Person

Florian Böll, bekannt aus Funk und Fernsehen, ist Jugendexperte, Mentor und Trainer. Der Gründer der „Starke Kidz School“ bietet gemeinsam mit seinem Team Resilienz- und Selbstbehauptungstrainings an, um Konflikte gewaltfrei zu lösen und Überforderung zu reduzieren. Der Experte schlägt Alarm: „Wir formen Leistungsträger, keine Persönlichkeiten und fahren damit die seelische Gesundheit der jungen Generation an die Wand“! Böll unterstützt mit seinen Workshops Kinder, Eltern und Schulen – mit dem Ziel, junge Menschen stark zu machen, bevor der Stress sie schwächt.

Hilfsangebote in Köln und der Region - Eine Auswahl

  1. „wir helfen“ unterstützt einige Projekte in der Region, die an Schulen Workshops gegen Stressbewältigung, Mobbing und Gewalt anbieten – eine Auswahl:
  2. „Mental Health-Projekt“ der Kölner Bezirksschüler*innenvertetung (Workshops zur Förderung der mentalen Gesundheit von Schülerinnen und Schülern) www.koeln-bsv.de/bsvkoeln/mental-health
  3. FairStärken e.V. ( Sozialtrainings und Gewaltprävention für Schulen) www.fairstaerken.de
  4. Wir wollen mobbingfrei (Schul-Projekt der Stiftung „Mobbing stoppen! Kinder stärken!“ ) www.wirwollenmobbingfrei.com
  5. Gewaltrei lernen (Schulisches Anti-Gewalt-Training von Sybille Wanders) www.gewaltfreilernen.de
  6. Lobby für Mädchen e.V. bietet diverse Workshops für Mädchen und junge Frauen auch zum Thema Resilienz an. www.lobby-fuer-maedchen.de
  7. „Bärt & Bärta“ (Gewaltpräventionsprojekt des Kölner Kinderschutzbunds für Grundschulen) www.kinderschutzbund-koeln.de/angebot/baertundbaerta/
  8. Zartbitter e.V. hat einige schulische Präventionsprojekte etwa zum Thema Kinderrechte im Repertoire www.zartbitter.de
  9. „Gemeinsam gegen Gewalt an Grundschulen“ (Grundschul-Workshops der Fachstelle für Jungen und Männer des SKM Köln) www.skm-koeln.de/jungenarbeit (kro)