Doppelt geschlagenDas Leiden von Kindern gewaltsamer Väter

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Ein Mädchen mit langen blonden Haaren hält sich verzweifelt die Hände vors Gesicht.

Mädchen und Jungen, die Gewalt erlebt haben, leiden unter Ängsten, Schwindel, Ess-, Konzentrations- und Lernstörungen und an mangelnder Selbstachtung.

Immer wenn der Teufel in Jakobs* Vater fuhr – nach einer durchzechten Nacht oder wenn er morgens schlichtweg mit dem falschen Fuß auftrat – verging sich der Choleriker an seiner Ehefrau. Nicht selten musste Jakob selbst daran glauben. Dann hängte der meist grundlos wütende Vater den kleinen Jungen kopfüber am Holzgestell des Hochbetts auf und prügelte wie von Sinnen auf ihn ein. Über Monate und Jahre hinweg waren Jakob und seine Mutter massiver Gewalt ausgesetzt. Bis die Frau die Kraft zum Leiden verlor. Zum Schweigen, Erdulden, Abhängigsein.

Im Oktober 2014 vertraut sie sich einer Freundin an, die ihr rät, sich an die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser zu wenden, um eine Zufluchtsstätte für Jakob, damals 12, und sich zu finden. Irgendwo in Deutschland. Möglichst weit weg von zu Hause. Dem Martyrium. Ihrem Peiniger.

Eine Frau versucht, sich vor der Gewalt eines Mannes zu schützen (gestellte Aufnahme)

Eine Frau versucht, sich vor der Gewalt eines Mannes zu schützen (gestellte Aufnahme).

13.000 Kinder in Frauenhäusern

Jakobs Mutter hat großes Glück: In einem Kölner Frauenhaus ist ein Platz für sie und Jakob frei. „Das ist leider nicht selbstverständlich“, sagt Claudia Schrimpf vom Verein „Frauen helfen Frauen e.V.“, der zwei autonome Frauenhäuser in Köln betreibt – und pro Jahr bis zu 800 Frauen aus Platzmangel abweisen muss. Jakob ist einer von rund 13.000 Kindern, die jährlich im Schlepptau ihrer geschlagenen Mütter Zuflucht in einem der 350 Frauenhäuser der Republik suchen. Viele dieser Kinder wurden selbst misshandelt und missbraucht – einige schon vor der Geburt: Zwei Drittel der betroffenen Frauen, so das Ergebnis einer Studie des Bundesfamilienministeriums, wurden während der Schwangerschaft misshandelt, auch durch Schläge und Tritte in den Unterleib.


Versorgungslücke in Frauenhäusern

  • Rund 359 Frauenhäuser gibt es in Deutschland, 132 davon in autonomer Trägerschaft (26 in NRW, 2 in Köln), die insgesamt Platz für 6800 Frauen und ihre Kinder bieten (571 in NRW, 56 in Köln) und jährlich bis zu 17.000 Frauen und ihren Kindern, also etwa 30.000 Personen Schutz und Beratung ermöglichen.
  • Laut Istanbul-Konvention sind in Deutschland 21.429 Plätze nötig, es fehlen also 14.630 (1200 in NRW, 74 in Köln).
  • In Köln lebten 2017 in beiden Häusern zusammen 68 Frauen und 79 Kinder, 691 Frauen konnten aus Platzmangel nicht aufgenommen werden. Landesweit mussten 5888 Aufnahmegesuche abgelehnt werden.
  • Quellen: Bundeskriminalstatik 2017, „Familienministerium“: Bericht zur Situation der Frauenhäuser 2017

Das eigene Zuhause, der gefährlichste Ort

Diese 13.000 Jungen und Mädchen sind nur die Spitze des Eisbergs: Experten gehen davon aus, dass lediglich 20 Prozent der betroffenen Frauen Hilfe suchen. Die Dunkelziffer derer, für die das eigene Zuhause der gefährlichste Ort ist, ist also wesentlich größer. Gewalt gehört zu ihrem grausamen Alltag. Die genannte Studie belegt, dass 57 Prozent der Kinder die Gewalt, die ihrer Mutter angetan wurde, mit anhörten, 50 Prozent die Gewalt sahen, 21 Prozent in die Auseinandersetzungen mit hinein gerieten und zehn Prozent angegriffen wurden. „Aus der Traumaforschung ist längst bekannt, dass allein das Miterleben von Gewalt starke psychische Probleme auslösen kann“, sagt Ute Fingaß von „Frauen helfen Frauen“. Die Mädchen und Jungen leiden unter Ängsten, Schwindel, Ess-, Konzentrations- und Lernstörungen und an mangelnder Selbstachtung. Sie haben Schlafprobleme, Bauch- und Kopfschmerzen, nässen ein, ihre Entwicklung kann gestört und beeinträchtigt sein – und auch ihre sozialen Kompetenzen.

Zu früh zu viel Verantwortung

Wie bei Jakob. Er war äußerst aggressiv als er ins Frauenhaus kam, akzeptierte keine Regeln, kannte weder Respekt noch Solidarität. „Während Jungen dazu neigen, aggressiv und dominant wie ihre schlagenden Väter zu sein, verarbeiten Mädchen ihre Erlebnisse meist, indem sie sich über Gebühr anpassen oder eine ihrem Alter unangemessen hohe Verantwortung übernehmen“, sagt Fingaß. Und erzählt von einem Mädchen, das den Koffer für die bewusstlos geschlagene Mutter packte, damit es später schneller mit ihr fliehen kann.

Auch Alena* litt anfangs unter Jakobs Aggressionen. Die heute 13-Jährige kam drei Monate später, im Winter 2014, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer acht Jahre älteren Schwester unter Polizeischutz ins Kölner Frauenhaus. Verunsichert, scheu und voller Angst. Alles Vertraute hinter sich lassend: Das Elternhaus, den Heimatort, Freunde, Mitschüler, den Park zum Spielen vor der Tür. Stattdessen: Anderer Ort, neue „Wohngemeinschaft“ mit 19 fremden Personen auf engstem Raum, 18 Quadratmeter für sich, die Schwester und die Mutter. Alles neu – und anonym. Niemand darf erfahren, wo sie sich aufhält.

Ein kleines Mädchen steht in der Tür, die in einen dunklen Raum führt.

Rund 13.000 Kindern suchen im Schlepptau ihrer geschlagenen Mütter Zuflucht in einem der 350 Frauenhäuser der Republik. Die Dunkelziffer ist weit höher.

Kontrollgänge in die eigene Wohnung

„Furcht war unsere treue Begleiterin, unser Zuhause ein Gefängnis“, resümiert Alenas Mutter heute, drei Jahre nach ihrem Auszug in die Freiheit, die 23 Jahre auf sich warten ließ. Ihr Martyrium bis dato im Telegramm-Stil: Mit 15 von den Eltern zwangsverheiratet, mit einem Mann, der ihr befiehlt, die Schule abzubrechen, um mit 16 die erste Tochter zur Welt zu bringen, 2005 die zweite. Fünf Jahre später flieht die Familie von Osteuropa nach Deutschland, wo der depressive, krankhaft eifersüchtige und gewalttätige Vater Alenas Mutter jeglichen Kontakt zur Außenwelt verbietet – Handy und Deutschkurse inklusive, stündliche Kontrollgänge in die Wohnung unternimmt, zwischendurch die Kinder aushorcht, was die Mutter in seiner Abwesenheit treibt. Immer wieder Morddrohungen – sollte die Mutter auch nur mit dem Gedanken spielen, zu gehen.

„Der Alltag im Frauenhaus fühlte sich wie eine Befreiung an“ 

„Die Dynamik dieser Familienbeziehungen ist auch nach der Trennung von den Machtgefühlen des Vaters und den Ohnmachtsgefühlen der Opfer geprägt“, sagt Schrimpf. Diese Emotionen können, werden Kinder nicht frühzeitig professionell betreut und therapiert, ihr künftiges eigenes Paar- und Elternverhalten bestimmen.

„Um diesen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, psychische Folgen zu vermeiden und Kindern und Frauen zu ermöglichen, das Erlebte zu verarbeiten, benötigen sie vor allem Zeit, Schutz und Sicherheit“, sagt Fingaß. Häufig stehe dem aber das Umgangsrecht der Väter entgegen. 70 Prozent der Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt waren und deren Kinder Kontakt zum Vater hatten, wurden während der Besuche oder bei der Übergabe weiter misshandelt. Viele Väter üben zudem über ihre Kinder weiter Druck auf ihre Frauen aus und belasten damit die Kinder enorm. „Leider setzen Familiengerichte zu selten das Umgangsrecht der Väter aus, selbst bei massiver Gewalt“, kritisiert Schrimpf.

Gewalt ist nicht privat

Kinder haben ein gesetzlich verbrieftes Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, sind angewiesen auf Fürsorge, darauf, in der Bindung zu den Eltern Sicherheit und Stärke zu erleben. Doch Kinder wie Alena und Jakob sind doppelt benachteiligt und belastet. Zum einen untergräbt die Gewalt des Vaters diese innere Sicherheit. Hinzukommt, dass die meisten betroffenen Mütter ihre Erziehungsfunktion nicht wahrnehmen können, weil sie zu sehr mit dem eigenen Trauma beschäftigt sind.

Alenas Kindheit war überschattet von der Sorge um ihre Mutter. Tagsüber konnte sie sich nicht auf die Schule konzentrieren, ihre Leistungen fielen enorm ab, nachts fand sie keinen Schlaf. „Dagegen fühlte sich der Alltag im Frauenhaus wie eine Befreiung an“, sagt Alena. Erstmals in ihrem Leben konnte sie dort auch mal Kind sein. Musste beim Spielen nicht darauf achten, ob die Mutter im Hintergrund in Gefahr ist. Erfuhr, dass sie nicht alleine ist, dass alle Kinder im Frauenhaus Gewalt erfahren haben – auch Jakob, heute ihr bester Freund. Sie erlebte Unterstützung auf allen Ebenen – und dass ein Frauenhaus mehr sein muss, als einfach nur ein Dach über dem Kopf. Die Mitarbeiterinnen klärten gemeinsam mit Alenas Mutter deren finanzielle Existenz, halfen ihr, Deutsch zu lernen, einen Schulplatz für die Töchter zu finden, Personalausweis, Versichertenkarte, Ummeldung zu beantragen, begleiteten sie zum Jugendamt, Gericht und Arzt, klärten sie auf in Sachen Sorgerecht und Umgangsregelungen, kümmerten sich um eine Therapie für die ältere Tochter und stärkten sie in Erziehungsfragen.

Unterversorgte Hochrisikokinder

„Wir Frauenhäuser sind immer auch Kinderhäuser, es geht neben Schutz und Sicherheit vor allem darum, den Bedürfnissen der Jungen und Mädchen gerecht zu werden“, sagt Fingaß. Denn die sind psychisch hochbelastet, weshalb sie passgenaue, beratende wie therapeutische Hilfen brauchen. „Leider sind diese Hochrisikokinder häufig unterversorgt“, mahnt Schrimpf. Anders als in den Kölner autonomen Frauenhäusern sind anderswo Kinderbereiche keine Selbstverständlichkeit. Fehlen flächendeckend personelle wie räumliche Ressourcen und spezielle Angebote, die über eine reine Kinderbetreuung hinausgehen.

Alena wurde im Frauenhaus ermutigt, Raum und Zeit für sich in Anspruch zu nehmen, selbstbewusst und stark zu sein, ihre Grenzen zu spüren – und auch Jakob gegenüber auszudrücken. Der wiederum erfuhr, dass er nicht stark und überlegen sein muss, und dass er Gefühle, wie Angst, Schuld oder Trauer zeigen darf. Der gemeinschaftliche, verlässliche und gewaltfreie Umgang miteinander half ihm, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen.

Lebensziel Rechtsanwältin

Auf einer Informationsveranstaltung in Köln bekannte er kürzlich vor großem Publikum: „Im Frauenhaus habe ich gelernt, was es heißt, respektvoll und achtsam miteinander umzugehen.“ Auch Alena kam zu Wort und erzählte von ihren Erfolgen. Als Klassenbeste der achten Klasse einer Kölner Gesamtschule. Als Gewinnerin eines landesweiten Lesewettbewerbs. Als stolze Tochter einer Mutter, die in kürzester Zeit Deutsch gelernt, sich einen Job gesucht und eine Wohnung gefunden hat. „Ich möchte Rechtsanwältin werden, um später einmal anderen Frauen helfen zu können“, sagte sie. Und deren Kindern, versteht sich.

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Nach der Devise „Kinderbereiche statt Spielecken“ wünschen sich Fingaß und Schrimpf, dass genügend Personal, Raum und Geld für die Arbeit mit Mädchen und Jungen bundesweiter Standard in Frauenhäusern wird. Und dass das „permanente Ringen um die Finanzierung“ ein Ende hat.

Zwar werden die beiden „Frauen helfen Frauen“-Häuser vom Land und von der Stadt unterstützt, doch zehn Prozent der Finanzierung, also rund 85-000 Euro muss der Verein pro Jahr selbst mit Hilfe von Spenden aufbringen – unter anderem, auch von „wir helfen“.

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