Gymnasiallehrerin an der Hauptschule„Viele Kinder fallen durch das Sieb“

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Damit das Schulsystem gerechter wäre, müsste sich sehr vieles ändern, sagt die Hauptschullehrerin Lisa Graf.

Damit das Schulsystem gerechter wäre, müsste sich sehr vieles ändern, sagt die Hauptschullehrerin Lisa Graf.

Köln – Die Gymnasiallehrerin Lisa Graf unterrichtet an einer so genannten Brennpunktschule. Weil sie das System, in dem sie arbeitet, als ungerecht empfindet, hat sie ein Buch über ihre Schüler und Schülerinnen geschrieben.

Frau Graf, Ihr Buch beginnt mit Ihrer eigenen Biographie. Was erkennen Sie aus Ihrer Kindheit in Ihren Schülerinnen und Schülern wieder?

Lisa Graf: Wenn Kinder und Jugendliche häusliche Probleme mit in die Schule schleppen, schlägt sich das in der Regel in unerwünschtem Verhalten nieder. Ich war auch ein Kind, das für die Lehrkräfte eher unangenehm war. Ich war laut, habe viel geredet, war unkonzentriert, sehr, sehr unordentlich und habe mich nicht an Absprachen gehalten. Ich konnte mich schlecht konzentrieren. Dieses Verhalten macht es Lehrerinnen extrem schwer. Sie werden schnell ungeduldig und wollen so ein Verhalten abstellen. Ich wurde sehr oft ermahnt und bestraft. Diese Rastlosigkeit und totale Zerstreuung sehe ich auch bei meinen Hauptschülerinnen und Hauptschülern.

Können Sie den Schülern besser helfen, weil sie die Verhaltensmuster so gut kennen?

Ich versuche es, aber dafür gibt es in der Schule zu wenige Möglichkeiten. Die Strukturen sind nicht darauf ausgelegt. Es ist auch die Frage, ob man überhaupt will, dass Lehrerinnen das tun. So wie es gerade ist, kann eine Lehrerin diesen Kindern nur helfen, wenn sie sich über das normale Maß hinaus engagiert, vielleicht zum Nachteil des Lehrplans. Dieser Spagat ist sehr unbefriedigend.

Lisa Graf hat über ihre Zeit als Lehrerin an der Hauptschule ein Buch geschrieben.

Lisa Graf hat über ihre Zeit als Lehrerin an der Hauptschule ein Buch geschrieben.

Wie sind Sie als Gymnasiallehrerin überhaupt an eine Hauptschule gekommen?

Mir wurde nach dem Referendariat keine passende Stelle zugewiesen, daraufhin habe mich dann bewusst nach anderen Schulformen umgeschaut. Ich habe geahnt, dass das eine andere Welt sein wird. Für viele aus meinem Umfeld war dieser Wunsch nicht nachvollziehbar. Viele junge Lehrer aus Akademikerfamilien haben Berührungsängste mit dem sozialen Milieu, das die Hauptschule prägt. Es gibt aus Filmen wie „Fack ju Göhte“ viele überzogene Klischees über so genannte Brennpunktschulen. Es ist aber nicht alles wie in einem Klamauk-Film, erst einmal betritt man eine ganz normale Schule.

„Aussieben“ und „auffangen“ sind zwei Floskeln, die Ihnen in den unterschiedlichen Lehrerzimmern begegnet sind.

Davon haben die Kollegen immer wieder gesprochen. Im Gymnasium wurde explizit „ausgesiebt“: Kinder, die nicht genug Leistung erbringen, fallen durch das Sieb und landen im „Auffangbecken“ Haupt- oder Realschule. Das finde ich ein trauriges Bild, weil es eine Unterteilung in „oben“ und „unten“ darstellt. Es vermittelt die Vorstellung, dass die Kinder auf dem Gymnasium besser sind als die Kinder auf der Hauptschule. Kinder, die vom Gymnasium wechseln, kommt oft schon gekränkt und mit einem Abstiegsgedanken bei den anderen Schulformen an.

Das frühe Selektieren im deutschen Schulsystem sei nicht nur für Hauptschüler sondern auch für Gymnasiasten nachteilig, schreiben Sie.

Ich halte es grundsätzlich für falsch, dass wir schon nach der vierten Klasse über die Schulform eines Kindes entscheiden. Sinnvoll wäre eine Trennung erst in der neunten Klasse. Dann könnten wir nach Neigungen gehen und nicht nach „gut“ und „schlecht“ – zum Beispiel ob jemand lieber mit dem Kopf oder mit den Händen arbeitet. Dann würde man auch Gymnasiastinnen gerechter werden. Viele bekommen zum Studium keine Alternative angeboten.

Es gibt Bedenken, dass eine „Schule für alle“ das Niveau des Unterrichts senken würde, weil es sich an den schwachen Schülern orientieren muss.

Ich bin nur für die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Falsch wäre, alle Kinder in ein Gebäude zu stecken und Unterricht machen wie bisher. Das kann nicht funktionieren, das wird keinem Kind gerecht. Wir müssten uns von einem großen Teil Schule, wie wir sie kennen, trennen.

So können Sie helfen

wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird“ bitten wir um Spenden für Projekte, die Kinder und Jugendliche wieder in eine Gemeinschaft aufnehmen, in der ihre Sorgen ernst genommen werden.  

Bislang sind 1.328.993,90 Euro (Stand: 27.09.2022) eingegangen. Die Spendenkonten lauten: „wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“ Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 3705 0299 0000 1621 55 Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 3705 0198 0022 2522 25

Mehr Informationen und Möglichkeiten zum Spenden unter www.wirhelfen-koeln.de.

Wie sähe ein gerechteres Schulsystem aus?

Wir würden alle Schülerinnen und Schüler unter ein Dach bringen, aber das Dach wäre viel größer. Es gäbe mehr Räume und mehr Platz, sowohl für die Begabten als auch für die Kinder mit Unterstützungsbedarf. Sie hätten mehr Ansprechpartner, die sich um ihre verschiedenen Bedürfnisse kümmern würden.

Sie loben das finnische Schulsystem. Was können die Finnen besser?

Finnland kann für uns ein riesiges Vorbild sein. Es gibt dort eine qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung. Die Kinder sind bis zur neunten Klasse zusammen. Sie können nicht sitzen bleiben. Keine Lehrkraft hält den Unterricht alleine ab. An der Schule arbeitet ein interdisziplinäres Team aus Pädagogen, Psychologen und medizinischem Personal zusammen.

Warum arbeiten Mediziner an der Schule?

Dort finden regelmäßige medizinische und psychologische Check-ups in der Schule statt, zum Beispiel kommt der Zahnarzt in die Klassen. Dadurch ist die Hemmschwelle, über ein Problem zu sprechen, für die Kinder viel geringer. Ein großer Teil der Care-Arbeit, für die in Deutschland die Eltern verantwortlich sind, findet in der Schule statt. So ist es gerechter. Das empfinden auch privilegierte Menschen in Finnland als Vorteil. Durch die hochwertige Förderung können beide Elternteile Vollzeit arbeiten und die Mütter müssen nicht nachmittags ihre Kinder durch die Gegend kutschieren.

In Deutschland wird eher erwartet, dass die Eltern auch innerhalb des Schulsystems einige Aufgaben übernehmen.

Schule verlangt von unseren Kindern und Jugendlichen einen extremen Organisationsaufwand. Weil wir digital so schlecht aufgestellt sind, müssen Kinder täglich verschiedene Hefte und Bücher dabei haben. Parallel dazu müssen sie noch Extra-Aufgaben und Termine für Klassenarbeiten auf dem Schirm haben. Viele Kinder kriegen das ohne Hilfe nicht auf die Reihe. Sie haben dann ihre Hausaufgaben nicht dabei und die Leistungen werden sofort schlechter. Auf dem Gymnasium gibt es mehr Eltern, die das ganze Organisieren mit ihren Kindern üben. Das erwarten die Schulen wie selbstverständlich.

Aber gibt es nicht immer ordentlichere und unordentlichere Kinder?

Ja, aber es ist ungerecht, dass es bei den unordentlichen Kindern solche gibt, die Hilfe von ihren Eltern bekommen und solche, die von zu Hause keine Hilfe erwarten können.

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Sie befassen sich auch mit den Zukunftsaussichten ihrer Hauptschüler. Welche Chancen haben sie auf dem Arbeitsmarkt?

Viele Betriebe wollen keine Hauptschüler – oder Realschüler mit schlechten Zeugnissen. Es ist aber auch ein großes Problem, dass sich die Jugendlichen erst gar nicht bewerben. Viele befinden sich in einer anderen Lebensrealität, in der die eigene Zukunft sehr lange keine Rolle spielt. Dann bringt es auch nichts, wenn der Schüler oder die Schülerin mal 45 Minuten bei der Berufsberaterin sitzt, die ihm oder ihr eine Liste mit möglichen Ausbildungsberufen gibt oder mal bei einer Bewerbung hilft. Es bräuchte in der Schule eine viel engmaschigere Begleitung, damit am Ende wirklich auch jede und jeder die Schule mit einem Plan verlässt. Woher soll sonst die Motivation kommen?

Wäre ein Schulfach „Berufswahl“ die Lösung?

Ein solches Schulfach gibt es an einigen Schulen bereits und das ist auf jeden Fall ein guter Anfang. In der Schule der Zukunft, die ich im Sinn habe, gäbe es aber ohnehin ein bis zwei Bezugspersonen pro Klasse, die die Schüler gut kennen, ihre Talente und Fähigkeiten einschätzen und individuell fördern. Das könnte man dann mit Berufswahl-Angeboten wie Praktika, Unternehmenskooperationen und Bewerbungstraining kombinieren.

Lisa Graf: Abgehängt. Von Schule, Klassen und anderen Ungerechtigkeiten, Heyne Verlag, 16 Euro

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