Todkranke KinderWas ihren Familien fehlt

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Ein Mädchen liegt im Bett, ein Erwachsener hält seine Hand, an der eine Infusionsnadel zu sehen ist.

400.000 Kinder sind in Deutschland von einer lebensverkürzenden Krankheit betroffen.

Erstmals erforscht eine Studie die Bedürfnisse von Familien mit unheilbar kranken Kindern und Jugendlichen - und liefert Empfehlungen für die Politik.

In Deutschland leben etwa 400.000 Kinder und Jugendliche mit einer lebensverkürzenden oder lebensbedrohlichen Erkrankung. Auch wenn die Bedarfe der betroffenen Kinder und ihrer Familien nur sehr wenig erforscht sind — Fakt ist: Die Diagnose wird von betroffenen Familien als existenzielle Herausforderung erlebt und kann für die erkrankten Kinder und Jugendlichen sowie das gesamte Familiensystem Auswirkungen auf alle Lebensbereiche haben.

Die Studie „FamPalliNeeds“ des Instituts für Rehabilitationswissenschaften der Berliner Humboldt-Universität liefert nun erstmals umfassende Daten zu den unterschiedlichen Lebenssituationen und Bedürfnissen der Familien, in denen erkrankte Kinder und Jugendliche leben oder gelebt haben. Die Studie wurde vom Bundesfamilienministerium gefördert, Kooperationspartner ist der Deutsche Kinderhospizdienst 

Keine Freizeit, kaum soziale Teilhabe 

Das traurige Ergebnis: Alle Mitglieder von Familien, in denen Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzender oder lebensbedrohlicher Erkrankung leben, sind in ihrer sozialen Teilhabe stark eingeschränkt. In den Möglichkeiten, als ganze Familie gemeinsam Freizeit und Urlaub zu gestalten sowie im öffentlichen Raum mobil zu sein, erleben sich jeweils rund zwei Drittel der befragten Eltern stark eingeschränkt beziehungsweise sehen sie keine Möglichkeiten, die Wünsche der Familie umzusetzen.

Die bestehenden Angebote sind für die Familien völlig unzureichend. Dringend notwendig sind passgenaue Leistungen im Sinne eines Eltern-Pflegegeld-Plus, das die enormen finanziellen Belastungen auffängt
Sven Jennessen, Professor für Pädagogik und Studienleiter

Auch der Bildungsort der erkrankten Kinder und Jugendlichen ist stark von ihrem Unterstützungsbedarf abhängig: Während alle Kinder mit Pflegegrad 1 und 60 Prozent der Kinder mit Pflegegrad 2 eine Regelschule besuchen, sind dies in der Gruppe der von Pflegegrad-5-Betroffenen nur 12,3 Prozent, also etwa jedes achte Kind. Alle anderen Kinder besuchen eine Förderschule.

Für Eltern ist die eigene Erwerbstätigkeit ein wichtiges Element von Teilhabe. Wenn die Rahmenbedingungen es ermöglichten, sprich: vor allem die Versorgung des Kindes verlässlich gesichert wäre, würden von den aktuell nicht erwerbstätigen befragten Elternteilen 71,8 Prozent gerne wieder einen Beruf ausüben. „Ob Bildung, Berufstätigkeit oder Freizeitaktivitäten – die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe sind für Eltern und Kinder erheblich eingeschränkt“, resümiert Sven Jennessen, der Leiter des Forschungsprojekts.

Alleingelassen mit der Bürokratie 

Zudem fühlen sich Familien alleingelassen, wenn es darum geht, Anträge für Unterstützungsleistungen zu stellen. 71,4 Prozent der Eltern gaben an, nicht ausreichend von Fachkräften zu ihnen zustehenden Leistungen und Angeboten beraten zu werden. Auch die Beratung zu medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Aspekten bewerten fast 50 Prozent als eher oder sehr schlecht.

Deshalb fordern Jennessen und sein Team von der Politik, dass — vor allem in ländlichen Regionen — wohnortnahe Angebote der Versorgung, Betreuung und Beratung ausgebaut und mehr Fachkräfte an die Schulen geholt werden. Schließlich leben 94,2 Prozent der Kinder und Jugendlichen zu Hause, auch bei den über 27-Jährigen beträgt dieser Anteil noch fast zwei Drittel. Für diese jungen (intensiv-) pflegebedürftigen Erwachsenen fehlen geeignete Wohnformen beziehungsweise Pflegepersonal.

Generell sind die Familien im Bereich der pflegerischen Versorgung und der medizinischen Leistungen vom Fachkräftemangel betroffen. Personalengpässe bei ambulanten Pflegediensten verschärfen die häusliche Situation und damit die Belastung der Angehörigen. Bei Krankenhausaufenthalten müssen die Eltern oft die Pflege ihres Kindes übernehmen. 66,9 Prozent sehen hier dringenden Verbesserungsbedarf.

Mehr Beratung notwendig

Familien benötigen frühzeitig und begleitend kompetente Ansprechpersonen, die barrierearm und in den Alltag integriert für sämtliche Themenbereiche des Krankheitsmanagements, der Teilhabe und der psycho-emotionalen Situation der Familienmitglieder zur Verfügung stehen. Denn neben der psychischen Belastung durch die Erkrankung und/oder den Tod eines Kindes, ist vor allem die Alltagsbelastung eine enorme Herausforderung - infolge des hohen organisatorischen und bürokratischen Aufwands, den das Krankheitsmanagement, die Vielzahl an Ansprechpartnern, Antragsverfahren, Hilfsmittelbeschaffung und vieles mehr mit sich bringen.

Zum Teil ließe sich dieser Aufwand, so die Forschenden, reduzieren, wenn bestimmte Leistungen langfristig bewilligt werden oder das Informations- und Beratungsmanagement verbessert würde. Nur 60,4 Prozent der Familien nutzen einen ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst. Von denen, die keinen in Anspruch nehmen, kennt fast ein Drittel dieses Angebot nicht. Auch über stationäre Kinder- und Jugendhospize ist fast jeder fünfte Elternteil nicht im Bilde. Sind sie bekannt, werden sie vor allem zur Entlastung genutzt, im Durchschnitt mit nur 15 Tagen jährlich.

Finanzielle Hilfe reicht nicht aus

Erhebliche Mehrkosten, Stundenreduktion oder gar die Aufgabe des Berufs aufgrund der aufwendigen Pflege des Kindes haben für viele Familien eine angespannte finanzielle Situation zur Folge. Bestehende Leistungen wie die Familienpflegezeit seien nicht ausreichend, da die Pflege oft viele Jahre andauert und eine Berufstätigkeit von mindestens 15 Wochenstunden nicht immer möglich ist. Jennessen: „Die bestehenden Angebote sind für die Familien völlig unzureichend. Dringend notwendig sind passgenaue Leistungen im Sinne eines Eltern-Pflegegeld-Plus, das die enormen finanziellen Belastungen auffängt.“

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