Nachfrage ist riesigWie realistisch ist ein 9-Euro-Ticket-Nachfolger?

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HAuptbahnhof Köln 080822

Gedränge am Kölner Hauptbahnhof 

  • Was die reinen Zahlen und das Interesse des Publikums angeht, ist das 9-Euro-Ticket ein klarer Erfolg.
  • Doch Verkehrsforscher zweifeln daran, dass ein Schnäppchenticket die Verkehrswende beschleunigt.
  • Auch die Bahn hat große Bedenken. Denn neben der Finanzierung eines möglichen Ticketnachfolgers gibt es noch weitere Probleme, die kurzfristig wohl nicht zu lösen sind.

Köln/Düsseldorf – Die Zahlen sind beeindruckend. 98 Prozent der Deutschen kennen das 9-Euro-Ticket, im Juni haben es laut Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) mehr als 30 Millionen gekauft. Einschließlich der Pendler mit Dauer-Abo, die dafür drei Monate lang einfach nur weniger zahlen müssen, teilte der Lobbyverband im Juli mit. Ob ein Schnäppchenticket allein die Verkehrswende beschleunigen kann, wenn man es dauerhaft anbietet?

Verkehrsforscher haben daran ihre Zweifel. Der VDV befragt jede Woche rund 6000 Verbraucherinnen und Verbraucher, mit vielen Sonderfragen speziell für Nutzer der Fahrkarte. Das Ergebnis: Rund ein Viertel der im ÖPNV angetretenen Fahrten wäre ohne das Ticket gar nicht erst gemacht worden. Es handelt sich also um zusätzliche Reisen und nicht um Ersatzfahrten, die sonst mit dem Auto gemacht worden wären.

„Das Ticket führt zu einer höheren Nutzung des öffentlichen Verkehrs, aber vor allem selektiv auf bestimmten Strecken – sogar so weit, dass dort der Verkehr zusammenbricht“, sagt Christian Böttger, Bahn-Experte an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW). Aus den bisherigen Untersuchungen lasse sich aber nur ein leichter Verlagerungseffekt von der Straße auf den Öffentlichen Verkehr von bestenfalls zwei bis drei Prozent erkennen.

Eine Auswertung von Mobilfunkdaten durch das Statistische Bundesamt ergab Anfang Juli: „Im Juni 2022 lagen die bundesweiten Bewegungen im Schienenverkehr im Schnitt 42 Prozent höher als im Juni 2019.“

Nachfrage übersteigt das Angebot deutlich

Überfüllte Regionalzüge, Verspätungen, weil das Ein- und Aussteigen deutlich mehr Zeit in Anspruch nimmt, immer wieder Ärger bei der Mitnahme von Fahrrädern. Bei der DB Regio in Nordrhein-Westfalen will sich offiziell niemand kritisch zu den Folgen des 9-Euro-Tickets äußern, doch hinter vorgehaltener Hand ist die Meinung der Infrastruktur-Experten sehr eindeutig. In Ballungsgebieten übersteigt die Nachfrage vor allem an den Wochenenden das Angebot zum Teil deutlich.

„Natürlich begrüßen wir die Einfachheit eines solchen Tickets. Und die Effekte, die jetzt eintreten, begrüßen wir auch“, sagt eine Führungskraft, die ungenannt bleiben möchte. „Die Leute wollen Bahn fahren. Gleichzeitig blicken wir aber auch auf die Infrastruktur, die uns derzeit zur Verfügung steht. Wenn wir die optimiert haben, uns noch mehr neue Fahrzeuge zur Verfügung stehen und natürlich auch mehr Personal für den Fahrdienst, dann können wir über den Preis die Bahn noch attraktiver machen. Wenn wir das anders machen, kommen noch mehr Menschen in ein bereits sehr belastetes System. Das wird dann sehr schwierig.“

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Rund 3200 Regionalzüge und S-Bahnen fahren in der Spitze täglich durch NRW. In einem Netz, das noch bis mindestens 2030 viele Großbaustellen verkraften muss. Der August könnte zu einem ernsthaften Belastungstest werden, wenn ab Mittwoch mit dem Ende der Sommerferien der Berufsverkehr wieder anrollt. Im Juli hatte die Bahn aus Personalmangel wegen vieler Corona-Erkrankungen und der Urlaubszeit den S-Bahnbetrieb an Rhein und Ruhr an einem Wochenende nahezu komplett einstellen müssen, weil in den Leitstellen nicht mehr genügend Fachkräfte zur Verfügung standen.

DB Regio hat in den vergangenen beiden Jahren rund 1,5 Milliarden Euro in die Erneuerung ihrer Flotte investiert, mit dem Geld 700 neue und modernisierte Züge zum Einsatz gebracht. Um dem Auto mehr Konkurrenz zu machen, brauche man aber nicht nur die Schiene, sondern auf dem Land ein dicht getaktetes Busnetz und On-Demand-Angebote, sagt Andreas Schilling, Vorstandsbeauftragter für Marketing der DB Regio im Gespräch mit „Fokus Bahn NRW“. Die Bahn müsse für mehr Menschen „dort Anschluss an Bus- und Bahn-Linien schaffen, wo er am dringendsten gebraucht wird.“

Eisenbahngewerkschaft lehnt Verlängerung des 9-Euro-Tickets ab

Die Eisenbahngewerkschaft EVG lehnt eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets allein schon aus Mangel an Personal ab. „Das 9-Euro-Ticket kann so nicht fortgeführt werden", sagt Martin Burkert, Vize-Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). „Wir haben eine Fürsorgepflicht, die Belegschaft hat die Belastungsgrenze erreicht und teilweise überschritten.“ Man sei gegen die Verlängerung des Tickets „unter diesen Überlastungs-Umständen“.

Es habe sich gezeigt, dass sehr viele Menschen den ÖPNV nutzten, wenn Preis und Angebot stimmten. „Es gibt kein Nachfrage- sondern ein Angebotsproblem. Wir brauchen dringend den Ausbau des gesamten ÖPNV und mehr Personal und Fahrzeuge“, fordert Burkert. „Langfristig wollen wir, dass der ÖPNV kostenlos wird. Vorher muss jedoch zuerst das Angebot und die Kapazitäten flächendeckend ausgebaut werden.“ Das 365-Euro-Jahresticket wäre eine gute Möglichkeit, dauerhaft mehr Menschen zum Umstieg auf Bahn und Bus zu bewegen, sagt Burkert. Um die Mobilitätswende zu schaffen, brauche man eine parteiübergreifende, langfristige Strategie und stabile Finanzierung.

Länder fordern mehr Bundesgeld für den ÖPNV

Genau die ist nicht in Sicht. Das 9-Euro-Ticket wird vom Bund mit 2,5 Milliarden Euro zum Ausgleich von Einnahmeausfällen bei den Verkehrsunternehmen finanziert, zusätzlich zu regulären 9,4 Milliarden Euro an „Regionalisierungsmitteln“ in diesem Jahr, mit denen Länder und Verbünde Verkehrsleistungen bei Anbietern bestellen. Dazu kommt eine weitere Milliarde aus einem anderen Topf. Die Länder fordern generell mehr Bundesgeld für den ÖPNV.

Erst am Wochenende hatte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) der Fortführung des 9-Euro-Tickets eine Absage erteilt. In der Finanzplanung des Bundes stünden dafür keine Mittel zur Verfügung. Sein Kabinettskollege und Parteifreund, Bundesverkehrsminister Volker Wissing, hingegen wertet es bereits jetzt als Erfolg.

Ein Erfolg, für den aus Sicht der Verkehrsforscher der Preis auf Dauer nicht ausschlaggebend ist. Eine Studie der TU Dresden kommt zu dem Schluss, dass neben dem Preis auch die Einfachheit des Angebots ausschlaggebend sei. Für ein Nachfolgeangebot können sich viele Menschen auch höhere Preise vorstellen, wie die Dresdner Befragung zeigt. Die meisten Menschen nannten dabei Werte zwischen 60 und 90 Euro.

Doch aus Sicht der Forschenden ist für den langfristigen Erfolg der Verkehrswende etwas anderes zwingend. „Wenn wir wirklich stabiles Wachstum wollen im öffentlichen Verkehr, dann müssen wir vor allem die Kapazitäten entsprechend erweitern“, sagt HTW-Experte Böttger. „Was wir gesehen haben, ist, dass das System wirklich am Anschlag ist.“

Böttger geht allein für den Eisenbahnverkehr von einem Investitionsstau beim Neu- und Ausbau von rund 150 Milliarden Euro aus – eingerechnet der Baukosteninflation der vergangenen Jahre. „Die Regierung ist weit, weit davon entfernt, diese Investitionen bereitzustellen.“

Genau da liegt das Problem. Denn wem nutzt das 9-Euro-Ticket, wenn die Züge so voll sind, dass die Pendler verärgert auf dem Bahnsteig zurückbleiben? (mit dpa)

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