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Chef der Versicherung Barmenia-Gothaer„Wir ersticken an der nationalen und europäischen Regulatorik“

6 min
Oliver Schoeller, Vorstandsvorsitzender des Versicherungsunternehmens Barmenia-Gothaer aus Köln

Oliver Schoeller, Vorstandsvorsitzender des Versicherungsunternehmens Barmenia-Gothaer aus Köln

Oliver Schoeller führt den fusionierten Kölner Versicherungskonzern Barmenia-Gothaer. Im Interview spricht er über Herausforderungen, Chancen und Jobs.

Herr Schoeller, die Bundesregierung ist nun gut zweieinhalb Monate im Amt. Welche Erwartungen haben Sie und die Branche an den Kanzler für die kommenden vier Jahre?

Oliver Schoeller: Ich freue mich sehr, dass wir eine handlungsfähige Regierung haben. Denn wir stehen vor großen Herausforderungen. Die nächsten vier Jahre werden entscheidend sein. Wenn die Themen, die Menschen bewegen, jetzt nicht angegangen werden, dann wird es bei den nächsten Wahlen sehr schwer, eine Regierung aus den demokratischen Parteien der Mitte zu bilden.

Was sind in Ihren Augen die größten Herausforderungen?

Da ist zum ersten die Verteidigungsfähigkeit Europas. Ich glaube, dass wir, um das Gleichgewicht in der Welt nachhaltig sicherzustellen, eine militärische Stärke Europas brauchen. Priorität Nummer zwei ist wirtschaftliches Wachstum als Grundlage für Prosperität in Europa. Das wird bestimmt durch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, an denen die Bundesregierung wie auch die EU dringend ansetzen müssen. Und drittens der stark unter Druck geratene Kampf gegen den Klimawandel. Das ist die langfristige Basis für geopolitischen Frieden.


Zur Person

Oliver Schoeller, 1971 in Aachen geboren, führt den fusionierten Konzern Barmenia-Gothaer gemeinsam mit Andreas Eurich seit September 2024. Er studierte BWL in Bayreuth. Im Anschluss arbeitete er als Unternehmensberater etwa bei der Mitchell Madison Group sowie als Geschäftsführer bei Baldwin Bell Green in Hamburg und New York. 2008 wechselte Schoeller zur Gothaer, 2010 wurde er als Chief Operating Officer in den Vorstand berufen. 2017 übernahm er den Vorstandsvorsitz der Gothaer-Krankenversicherung. Im Juli 2020 wurde er Vorstandsvorsitzender im Gothaer-Konzern.


An welche wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen denken Sie?

Sicherlich eines der bedeutendsten Themen ist die Sicherheit der Energieversorgung und der Zugang zu wachstumskritischen Rohstoffen. Energie bleibt entscheidend für den Wirtschaftsstandort Europa. Zweitens das Zusammenwachsen Europas zu einer echten Kapitalmarktunion, damit sich innovative Unternehmen in der EU weiterentwickeln können. Bislang sehen wir, dass zu viele junge innovative Unternehmen in die USA abwandern, weil die dortigen Kapitalmarktstrukturen Wachstum effizienter finanzieren können. In den USA haben an den Kapitalmärkten gelistete Unternehmen, die in den vergangenen 50 Jahren gegründet wurden, zusammen eine Marktkapitalisierung von 30 Billionen Dollar, in Europa gerade einmal 500 Milliarden. Diese Dynamik halten wir nicht durch. Dritter Eckpfeiler ist der Bürokratieabbau, denn wir ersticken an der gegenwärtigen nationalen und europäischen Regulatorik.

Die Versicherungsbranche gehört wie die Banken zu den am stärksten regulierten Branchen – auch aufgrund der Erfahrungen der Lehman-Pleite 2008. Was kann wegfallen, ohne die Stabilität zu gefährden?

Finanzmarktstabilität ist elementar, deswegen braucht es auch ein vernünftiges regulatorisches Rahmenwerk. Aber zum Beispiel bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung brauchen wir mittlerweile einen Stab. Wir sollten deutlich weniger, aber dafür wirkungsorientierter berichten müssen und könnten damit signifikant mehr für den Klimawandel tun. Zweites Beispiel ist der Umgang mit Daten und Künstlicher Intelligenz. Wir bekommen mit dem EU-AI-Act ein Riesenrahmenwerk, was wir alles nicht tun dürfen. Gleichzeitig gibt es aber beim Thema KI gegenwärtig bis auf vielleicht Mistral keinen großen Player in Europa. Wir als Versicherungsindustrie könnten auf Basis unserer großen Datenbestände unglaublich viel Gutes für unsere Kundinnen und Kunden bewirken. Zum Beispiel in der Krankenversicherung bei der Prävention, Gesundheitsangeboten oder der Vermittlung zu Fachärzten oder zu Krankenhäusern.

Im Koalitionsvertrag bleiben Reformen der staatlichen Sicherungssysteme bislang eher vage formuliert.

Sicherlich muss man nicht alles im Detail ausformuliert haben. Aber die Bereiche Gesundheit und Altersvorsorge sind in der Tat am wenigsten präzise formuliert. Dabei können wir schon jetzt mit mathematischer Genauigkeit sagen, dass wir in ein demografisches Problem laufen. Gerade im Gesundheitssystem sieht man heute schon die großen Herausforderungen für die gesetzliche Krankenversicherung. Dasselbe gilt für die Altersvorsorge, die Rentenlücke der Menschen wächst und die private und betriebliche Altersvorsorge stagniert. Es gibt gute privatwirtschaftliche Konzepte, wir müssen sie aber umsetzen.

Der Klimawandel stellt Ihre Branche in den kommenden Jahren vor erhebliche Herausforderungen.

Unsere Branche deckt die Risiken dieser Welt. Die Komplexität und Dynamik in der Welt machen es indessen schwerer, diese zu beherrschen. Der Klimawandel ist hier ein wesentlicher Treiber. Wenn wir es nicht schaffen, in Europa und weltweit gegen den Klimawandel vorzugehen, dann werden wir längerfristig nicht in der Lage sein, die resultierenden Risiken zu decken. Wir sehen das in Kalifornien und in Florida. Da geht es nicht mehr um bezahlbare Versicherungsprämien, sondern um die Deckung per se. Gerade wenn wir jetzt in Deutschland über Pflichtversicherungen nachdenken, spielt es eine zentrale Rolle, diese Elementarpflichtversicherung für die Menschen finanzierbar zu halten. Und das heißt allen voran, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten und in Klimafolgeanpassung zu investieren. Hier liegt unser Beitrag.

Der Zusammenschluss der Gothaer mit der Barmenia gehört zu den größten Fusionen in der Branche seit 20 Jahren. Wie ist der aktuelle Stand?

Wir kommen gut voran. Wir haben den Zusammenschluss in Rekordgeschwindigkeit vollzogen und sind dennoch als gemeinsames Unternehmen 2024 um sieben Prozent gewachsen, also knapp zwei Prozentpunkte oberhalb des Marktes. Alle Sparten konnten marktüberdurchschnittlich zulegen. Wir haben es geschafft, uns in dem anspruchsvollen Prozess der Fusion nicht nur um uns selbst zu drehen, sondern haben uns weiter dem Markt zugewandt. Das zeigt den Charakter dieses Zusammenschlusses.

Was sind die nächsten Schritte?

Wir verfügen nun über eine der größten Ausschließlichkeitsorganisationen der Branche, auch im Vergleich zu den Marktführern. Diese zwei Vertriebsorganisationen haben jetzt die Möglichkeit, auf ein größeres Produktportfolio zuzugreifen. Es verbinden sich die Stärken der Gothaer in der Kompositversicherung und ihr Schwerpunkt im Industrie- und Gewerbesegment mit den Stärken der Barmenia in der Personenversicherung vor allem im Privatkundensegment. Die Zusammenführung der beiden Organisationen ab dem kommenden Jahr bietet also große Potenziale.

Werden Sie Standorte zusammenlegen – etwa in kleinen Städten, wo es eine Gothaer- und eine Barmenia-Agentur gibt?

Nein, wir wollen unsere dezentralen Strukturen in der Fläche erhalten. Vertrieb braucht regionale Präsenz. Ab dem kommenden Jahr wird es bei unseren Agenturen aber einen einheitlichen Markenauftritt mit dem neuen Logo geben. Wenn sich Agenturen zusammenschließen wollen, dann steht ihnen das als selbstständigen Unternehmern natürlich frei.

Wird das Provisionssystem angeglichen und müssen Vermittler mit Abstrichen rechnen?

Nein, unser Provisionsmodell bleibt bestehen. Der Wettbewerb um gute Versicherungsvermittler ist deutlich härter geworden in den vergangenen Jahren. Deshalb arbeiten wir weiter intensiv am Ausbau unseres Vertriebs.

Wie sieht es denn mit den Beschäftigten der beiden Häuser aus?

Das ist der nächste große Schritt. Wir werden den Großteil aller Mitarbeitenden und ihre Verträge aus den Einzelgesellschaften in einer gemeinsamen Gesellschaft, der Konzernholding, zusammenführen.

Und an den Konditionen ändert sich nichts?

Alle behalten ihren bisherigen Arbeitsvertrag. Unsere freiwilligen Sozialleistungen werden wir allerdings harmonisieren. Dabei geht es um Themen wie betriebliche Altersvorsorge, eine betriebliche Krankenversicherung, aber auch moderne Elemente wie Sabbaticals. Auch mit Blick auf den Fachkräftemangel, werden wir nicht weniger bieten, im Gegenteil. Aber beide Vorgängeruntenehmen hatten unterschiedliche Sozialleistungen. Das werden wir vereinheitlichen und modernisieren.

Wo genau werden denn Leistungen gestrichen?

Darüber kann ich zum jetzigen Zeitpunkt leider noch nicht sprechen, denn wir sind noch in Verhandlungen mit den Sozialpartnern. Es wird sicherlich punktuell Leistungen geben, die anders strukturiert oder nicht mehr angeboten werden. Aber in Summe gibt es für die Mitarbeitenden viele neue oder verbesserte Leistungen. Unterm Strich werden wir damit auch künftig ein sehr attraktiver Arbeitgeber sein. Betriebsräte und Arbeitgeber haben gerade intern über den aktuellen Stand der Überlegungen berichtet und die Resonanz war positiv.

Sie haben zu Beginn der Fusion immer betont, dass keine Stellen gestrichen werden. Bleibt es dabei?

Eindeutig ja. Für alle Mitarbeitenden gilt seit dem Tag des Zusammenschlusses eine dreijährige Beschäftigungsgarantie, die wir nochmal um zwei Jahre bis Ende 2029 verlängert haben. Damit haben wir die nötige Laufruhe. Unsere internen Befragungen zeigen, dass die Menschen hinter den strategischen Überlegungen für den Zusammenschluss stehen und immer mehr Mitarbeitende auch die Chancen sehen, die sich daraus ergeben.