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Interview

IG-Metall-Vorstand
„Beschäftigte mit überflexiblen Arbeitszeiten bekommen Probleme“

Lesezeit 4 Minuten
IG-Metall-Sozialvorstand Hans-Jürgen Urban spricht auf einer Kundgebung.

IG-Metall-Sozialvorstand Hans-Jürgen Urban spricht auf einer Kundgebung.

Am Tag der Arbeit gehen die Gewerkschaften traditionell auf die Straße. In diesem Jahr gibt es besonders viel zu diskutieren, doch etwas ist anders: unsere Einstellung zur Arbeit.

Hans-Jürgen Urban hat schon viele Aufs und Abs in der Wirtschaft erlebt, von der Dotcom-Blase um den Jahrtausendwechsel über die Finanzkrise 2009 bis hin zur Corona-Pandemie. Seit rund 40 Jahren ist der Sozialwissenschaftler in der Gewerkschaft IG Metall aktiv, seit 2007 geschäftsführendes Vorstandsmitglied. In diesem Jahr hat Urban besonders viel zu beklagen: Arbeitsplätze werden abgebaut, Standorte geschlossen, US-Zölle setzen der Wirtschaft zu. Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, spricht der gebürtige Rheinländer bei der DGB-Kundgebung auf dem Kölner Heumarkt. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat ihn vorab zum Gespräch getroffen.

Herr Urban, es ist nicht die erste Wirtschaftskrise, die Deutschland erlebt. Und doch scheint in der Vergangenheit der Wille zum Aufbruch und zum Anpacken deutlich stärker gewesen zu sein. Sind wir zu träge geworden, um unsere Wirtschaft wieder voranzubringen?

Hans-Jürgen Urban: Die Wirtschaft ist in einer Phase langanhaltender Stagnation und entsprechend ist die gesellschaftliche Stimmung. Ich gebe Ihnen vollkommen recht: Es fehlt an vielen Stellen so etwas wie Aufbruchstimmung und Zukunftszuversicht. Dieser Stimmungswechsel muss vor allem von der Politik kommen. Aber auch von den Unternehmensvorständen. Es ist auch ihre Aufgabe, in wirtschaftlich schwierigen Situationen strategische Fantasie zu entwickeln und neue Produkte, neue Produktionsverfahren, neue Märkte, neue Kundenbeziehungen zu entwickeln. Zurzeit beobachten wir allerdings eher einen fatalen Rückfall in altes Kostensenkungsdenken. Die IG Metall und die Belegschaften sind bereit, diese Stimmung in Richtung Aufbruch zu drehen.

Es werden immer wieder Stimmen laut, die sagen: Arbeit lohnt sich nicht mehr. Von Aufbruchstimmung in der Belegschaft ist das ja ein ganzes Stück entfernt…

Wir merken, dass sich in den Betrieben vielfach Zukunftsangst und Zukunftszuversicht die Waage halten. Darum müssen Arbeitgeber Strategieangebote machen, die die Zuversicht stärken und die Angst reduzieren. Natürlich ist es so, dass auch die Bereitschaft zur Leistung steigt, wenn die Menschen ein faires Gegenüber vor sich sehen. Wenn der Eindruck entsteht, Leistungsbereitschaft wird ausgenutzt und Löhne kommen der Leistung nicht hinterher, dann kann das natürlich auch zu Motivationsproblemen führen. Aber das ist nicht wirklich unser Problem. Entscheidender ist, dass viele Unternehmen in die falsche Richtung rennen.

Wie meinen Sie das?

Nehmen wir die permanenten Forderungen der Wirtschaft nach verlängerten und flexibilisierten Arbeitszeiten. Der Koalitionsvertrag enthält die Forderung, die tägliche Höchstarbeitszeit und damit den Acht-Stunden-Tag zu beseitigen und lediglich noch eine wöchentliche Arbeitszeit festzuschreiben. Wir alle wissen, dass 9-to-5 als Acht-Stunden-Tag in vielen Betrieben nicht immer die Wirklichkeit ist. Der Acht-Stunden-Tag ist aber trotzdem ein so wichtiger Punkt, weil er eine Belastungsgrenze markiert: Wenn Arbeitszeiten zu lang sind, erhöhen sich Unfallhäufigkeit und Burn-out-Gefahr. Die Motivation hingegen lässt nach, weil Beschäftigte mit überflexiblen Arbeitszeiten zunehmend Probleme bekommen mit der Koordinierung von Berufsleben und Familienleben. Der Acht-Stunden-Tag ist vor allem ein Fixpunkt für ein gesundes und soziales Arbeiten – weil er Ausgleichszeiten vorgibt, auch für flexible Arbeitszeitmodelle.

Die IG Metall hat die Pläne zum Bürgergeld der neuen Regierung kritisiert und als Rückschritt bezeichnet. Eigentlich müsste es Ihnen als Arbeitnehmervertreter doch recht sein, dass diejenigen, die das System ausnutzen, härter sanktioniert werden, oder?

Das Problem wird von der falschen Seite angepackt: Die Zahlen zeigen, dass etwa 17.000 von weit über vier Millionen Bürgergeldempfängern wegen Nichtaufnahme eines Arbeitsangebots sanktioniert wurden. Selbst wenn wir die dreifache Dunkelziffer unterstellen, ist das immer noch ein verschwindend geringer Teil. Jedem Vorstandsvorsitzenden, der sich an einem Problem mit nicht einmal einem Prozent Relevanz verbeißt, würden wir sagen: Kümmere dich mal um die eigentlichen Probleme und verrenne dich nicht in irgendwelchen symbolischen Themen. Der Fortschritt beim Bürgergeld im Vergleich zu Hartz IV lag insbesondere darin, die Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt besser zu fördern. Arbeitsmarktexperten sagen nicht ohne Grund: Es ist erfolgversprechender, den Menschen bei der Reintegration in den Arbeitsmarkt zu helfen, als die wenigen, die Arbeitsangebote ausschlagen, unter Druck zu setzen. Das ist der Rückschritt, den wir sehen.

Wie bewerten Sie den Koalitionsvertrag denn abgesehen vom Bürgergeld?

Der Koalitionsvertrag formuliert ein Bekenntnis zur Automobil- und Stahlindustrie und benennt Maßnahmen zur Förderung von E-Mobilität. Das sind positive Ansatzpunkte, die nicht zuletzt auf den Druck und die Mobilisierung der Gewerkschaften zurückgehen. Erinnert sei an den Aktionstag der IG Metall mit 81.000 Beschäftigten im März, auch in Köln. Das Problem liegt eher darin, dass die Parteien versucht haben, ihre wichtigen Punkte in den Koalitionsvertrag hineinzubekommen, für die sie stehen und die sie ihren Wählern als Erfolg darlegen können. Dadurch ist ein Vertrag zustande gekommen, der keine in sich schlüssige Strategie für das Land und die Beschäftigten erkennen lässt. Er ist eher ein Kessel Buntes als ein Zukunftsbild für einen modernen Industrie- und Wirtschaftsstandort. Und noch ist der Koalitionsvertrag nicht in der Lage, die Zukunftszuversicht, von der wir eingangs sprachen, in die Gesellschaft hineinzutragen. Wir hoffen stark, dass die Koalition nicht ein Bild des wechselseitigen Tauziehens der Zerstrittenheit abgibt. Wir brauchen eine Politik des mutigen Aufbruchs: raus aus der Stagnation und rein in einen naturverträglichen Industriestandort.