Kritische InfrastrukturWie in Brauweiler die Stromversorgung Europas koordiniert wird

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Christoph Schneider, Chef der Amprion-Netzleitwarte in Brauweiler

Pulheim – Eines nicht mehr allzu fernen Tages könnten sich bei Amprion in Brauweiler zu den rund 100 IT-Experten und Ingenieuren, die in Europas größter Netzleitwarte arbeiten, noch ein paar Wetterfrösche gesellen. Deren Aufgabe wird es sein, möglichst exakt vorherzusagen, wann der Wind in welchen Teilen Europas auffrischt, wann sich Nebelschwaden auflösen und wo sich innerhalb der nächsten Stunden die Sonne blicken lässt. Ihre Prognosen werden in Systeme gespeist, deren künstliche Intelligenz die Stabilität der Stromversorgung berechnet.

Europa in einer völlig neuen Ordnung

„Wir haben heute schon den höchsten Anteil an erneuerbaren Energien in Europa“, sagt Christoph Schneider, Chef der Netzleitwarte. Das Problem ist die Schwankungsbreite. Mal sind es zwei, mal bis zu 80 Prozent Ökostrom, die am Ende aus der Steckdose kommen.

Wir stehen vor einer geschwungenen Bildschirmwand mit einer Fläche von mehr als 100 Quadratmeter, auf der Europa einer völlig neuen Ordnung unterliegt. Skandinavien ist links, Italien und Spanien rechts. Weil Europa von Nord nach Süd nur in einem Feuerwehrturm abzubilden wäre und der Betrachter auf Dauer nur Genickstarre bekäme. Die Wand zeigt das Stromnetz Europas – mit der Trasse, jedem Kraft- und Umspannwerk, mit den großen Verbrauchern, von denen es in Nordrhein-Westfalen besonders viele gibt.

Wissen, wann England die Franzosen mit Strom versorgt

Wenn es einen Begriff gibt, der die Arbeit der drei Ingenieure beschreibt, die an insgesamt 30 Monitoren pro Schicht vor der Wand sitzen, am besten beschreibt, ist es Verlässlichkeit. Sie können sich an jeden Teil Europas heranzoomen, zum Braunkohlekraftwerk Niederaußem ebenso wie einem Offshore-Windpark in der Nordsee. Sie können nachvollziehen, dass England die Franzosen unter dem Ärmelkanal gerade mit Strom versorgt, weil sich in Frankreich gerade zu viele Atomkraftwerke in Revision befinden und nicht liefern können.

Amprion ist einer von vier Übertragungsnetzbetreibern in Deutschland, transportiert den Strom über ein 11.000 Kilometer langes Hochspannungsnetz in einem Gebiet von Niedersachsen bis zu den Alpen, in dem 29 Millionen Menschen leben. Das allein wäre schon Verantwortung genug für den Drei-Mann-Betrieb in der Warte.

Überdies müssen sie dafür sorgen, dass das Netz für den Norden Europas mit 500 Millionen Menschen jederzeit im Gleichgewicht bleibt. Im schlimmsten Fall heißt das, alles zu unternehmen, um einen Blackout zu verhindern. Den Süden Europas hat die Schweiz im Griff.

Abschaltung der Kohlekraftwerke ist herausfordernd

Mit jedem Kohlekraftwerk, das vom Netz und damit als zuverlässiger Grundlastträger ausfällt, wird das schwieriger. Weil die Menschen dummerweise morgens alle zeitgleich auf Lichtschalter drücken, Kaffee und Eier kochen und das Smartphone aufladen, auch wenn kein Wind weht oder die Sonne nicht scheint.

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Wirtschafsminister Andreas Pinkwart im Gespräch mit Amprion-CEO Hans-Jürgen Brick

„Die Aufgabe wird anspruchsvoller, aber die Kollegen sind ihr gewachsen“, versichert Christoph Schneider. Die größte Herausforderung der Energiewende sei es, nach Lösungen für das Speichern von Strom zu suchen. Mit Wasserstoff zum Beispiel.

Ganz rechts auf der Bildschirmwand zeigen drei Messinstrumente, die einem Tachometer ähneln, an, um wie viele Millihertz die Frequenz vom Mittelwert abweicht, der ständig bei 50 Hertz gehalten werden muss, weil die Menge des produzierten Stroms im Netz stets der Menge des verbrauchten Stroms entsprechen muss. Bei einer Abweichung von 50 Millihertz, also bei 49,95 oder 50,05, müssen die Leitwarte schon eingreifen. Solche Momente der Hochspannung, die zu einem Blackout führen könnten, sind zum Glück recht selten.

Netzleitwarte gehört zur kritischen Infrastruktur

Die Netzleitwarte gehört zur kritischen Infrastruktur in Deutschland. Dass sich die Sicherheitsschleusen zum Allerheiligsten für den Reporter überhaupt öffnen, ist dem Besuch von Andreas Pinkwart (FDP) zu verdanken. Der Wirtschaftsminister des Energie-Intensivlandes Nordrhein-Westfalen ist einer Einladung des Amprion-Vorstands Hans-Jürgen Brick gefolgt. Beide haben sich viel zu sagen in diesen Tagen.

Pinkwart sitzen der Atomausstieg, der Kohleausstieg, der Klimawandel und die Landtagswahl im Nacken. All das führt immer wieder zu der Erkenntnis, dass Deutschland in allem noch einmal deutlich schneller werden muss. Hinzu kommen die Folgen des Ukraine-Kriegs mit einem immer noch drohenden Gas-Embargo – von welcher Seite auch immer. „Wir wollen am Kohleausstieg 2030 festhalten“, sagt der NRW-Wirtschaftsminister.

Kapazität bis 2030 um acht Gigawatt erhöhen

Aber: „Die Versorgungssicherheit muss kurzfristig wie auch langfristig robust gewährleistet werden. Das heißt, wir müssen rechtzeitig die zukunftsweisenden Projekte auf den Weg bringen, damit die klimaneutrale Stromversorgung für Nordrhein-Westfalen langfristig gesichert ist. Offshore-Windenergie wird dabei unsere wichtigste erneuerbare Energiequelle.“ Mit den Netzbetreibern wie Amprion weiß sich die Landesregierung in den Zielen einig.

Alle zwei Jahre erstellt das Unternehmen, für das in Dortmund und an 30 weiteren Orten in NRW rund 5000 Menschen arbeiten, Netzentwicklungspläne, die den verschiedenen Szenarien des Ausbaus der Energielandschaft immer wieder angepasst werden.

Vier Milliarden Euro für den Netzausbau

Woran es hakt, sind die Details. Hans-Jürgen Brick kündigt an, bis 2026 allein in NRW vier Milliarden Euro in den Netzausbau für eine klimaneutrale Wirtschaft zu investieren. Die Großkraftwerke für das Industrieland Nordrhein-Westfalen der Zukunft stünden in der Nordsee. „Neben Offshore-Windparks werden neue Leitungen benötigt, die den grünen Strom von der Küste bis an Rhein und Ruhr transportieren“, sagte Brick. "Wir transportieren damit den Offshore-Windstrom für bis zu acht Millionen Menschen sowie die Industrie und unterstützen damit den klimaneutralen Umbau des Wirtschaftsstandorts."

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Amprion wolle die Übertragungskapazität in NRW bis 2030 um acht Gigawatt erhöhen. „Wir transportieren damit Offshore-Windstrom für bis zu acht Millionen Menschen sowie die Industrie und unterstützen damit den klimaneutralen Umbau des Wirtschaftsstandorts“, sagt Brick.

Vorschläge aus der Politik

Die Politik habe wirksame Vorschläge vorgelegt, um den Ausbau der erneuerbaren Energien schneller voranzutreiben. Das müsse jetzt auch für den Netzausbau geschehen. „Wir erwarten in den nächsten Monaten weitere Vorschläge von der Bundesregierung, wie sich der Netzausbau besonders bei Planungs- und Genehmigungsverfahren weiter beschleunigen lässt, damit die Industrie auf grünen und bezahlbaren Strom für die Energieversorgung bauen kann“, so Brick weiter.

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Ein Offshore-Windpark in der Nordsee

Acht Gigawatt seien nur der Anfang bis zum Jahr 2030, sagt Pinkwart. „Die Anbindungsleitungen werden wichtige neue Lebensadern für unser Land und die Region: Mit ihrer Hilfe kann auch unsere energieintensive Industrie auf direkt-elektrische Prozesse umstellen.“ Möglich werde damit auch die Nutzung des Stroms für wasserstoffbasierte Prozesse, etwa in der Stahlerzeugung. „Wir haben daher ein großes Interesse daran, dass die Bundesnetzagentur nach 2030 noch weitere Offshore-Anbindungsleitungen für Nordrhein-Westfalen bestätigt.“ Bis 2040 müssten es 30 Gigawatt sein. Das sei auch das Ziel der Bundesregierung.

Notsynchronisation für die Ukraine

Bei Amprion ist man immer wieder zu schnellem Handeln gezwungen. Zuletzt habe man im März in aller Eile die Ukraine, deren Übergang in das europäische Energienetz seit 2017 vorbereitet wird, mit einer Notsynchronisation in das Geflecht integriert. „Wir greifen hier von Brauweiler ein, wenn es im Land zu Schwankungen im ukrainischen Netz kommt, weil beispielsweise in Kraftwerk ausgefallen ist und bringen die Waagschale wieder ins Gleichgewicht“, sagt Hans-Jürgen Brick.

Die Ukraine komplett in das Netz zu übernehmen, also durch Stromlieferungen oder Abnahmen das Gesamtsystem stabil zu halten, sei noch nicht möglich. Diesen Austausch werde es wie ursprünglich geplant erst ab 2023 geben. Sollte das Gleichgewicht wegen der Kriegsfolgen eines Tages aus dem Lot geraten, müsse man die Ukraine abtrennen, um die Stromversorgung in anderen Teilen Europas nicht zu gefährden.

Trotz der schwierigen geopolitischen Lage setzt Amprion darauf, europaweit ein Stromnetz zu entwickeln, das immer stärker auf die Erneuerbaren baut. „Wir sind das Betriebssystem der Energiewende“, sagt Vorstandschef Brick. Von Brauweiler aus könne man „sowohl Offshore-Windparks an das Netz anschließen als auch Sektoren wie Strom und Gas verbinden. Wir können künftig Power-to-Gas-Anlagen klimaneutral integrieren und damit einen relevanten Beitrag zum Aufbau eines Wasserstoffsystems leisten.“ 

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