Auch in KölnWarum wieder mehr Menschen Gewerkschaften beitreten

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Maikundgebung des DGB auf dem Heumarkt.

Maikundgebung des DGB im Jahr 2021 auf dem Heumarkt.

Durch Inflation und Kaufkraftverlust haben die Gewerkschaften erstmals wieder mehr Zulauf: 40 Prozent mehr Aufnahmen bei IG Metall Köln-Leverkusen.

Die Gewerkschaften haben sich vom Corona-Schock erholt und im vergangenen Jahr einen kleinen Ansturm erlebt: Die große Dienstleistungsgewerkschaft Verdi wie auch die kleine Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) sind 2023 gegen den langjährigen Trend wieder gewachsen und auch die IG Metall schaffte mit annähernd 130.000 Neu-Eintritten fast die schwarze Null. Sich in einer Gewerkschaft zu organisieren, scheint gerade bei jungen Leuten wieder eher im Trend zu liegen als in früheren Jahren, als die Mitgliederzahlen mit wenigen Ausnahmen nur den Weg nach unten kannten.

Den Gewerkschaften macht wie anderen gesellschaftlichen Institutionen grundsätzlich die demografische Entwicklung zu schaffen. Ältere Mitglieder sterben langsam weg oder steigen schon mit dem Ruhestand aus. Die Verkehrsgewerkschaft EVG und die IG Bergbau Chemie Energie sind auch 2023 aus diesen Gründen geschrumpft. Ein Jahr zuvor waren dort gut 5,6 Millionen Männer und Frauen organisiert.

Auch Kölner Gewerkschaften erleben den lange vermissten Mitgliederanstieg. Die IG Metall Köln-Leverkusen, zu der auch der Rhein-Erft-Kreis und der Rheinisch-Bergische Kreis gehören, verzeichnete im vorigen Jahr 1981 Neuaufnahmen. „Ein Plus von 39,6 Prozent“, sagte Kölns DGB-Chef Witich Roßmann am Freitag im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Damit hat die Metallgewerkschaft in Köln und Umland 40.050 Mitglieder.

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Bei den Angestellten haben wir einen Zuwachs von 5,9 Prozent gesehen
Witich Roßmann, DGB Köln-Leverkusen

Dabei beobachtet Roßmann eine sich ändernde Struktur der Gewerkschaftsmitglieder. War es früher eher eine Sache der Arbeiter, in der Gewerkschaft organisiert zu sein, strömen jetzt vor allem Büro-Mitarbeiter und vielfach Akademiker in die Reihen der IG Metall. „Bei den Angestellten haben wir einen Zuwachs von 5,9 Prozent gesehen“, sagt DGB-Chef Witich Roßmann.

Insgesamt 971 Neuaufnahmen aus den Reihen der Angestellten hat die IG Metall im abgelaufenen Jahr gesehen, ein Zuwachs um fast die Hälfte. Neben der IG Metall verzeichneten auch die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) sowie die Gewerkschaft der Polizei einen starken Zulauf.

Warum aber streben wieder mehr Arbeitnehmer zu den Gewerkschaften, die seit Jahren über Mitgliederschwund klagten. Witich Roßmann hat dazu zwei Megatrends ausgemacht: „Zum Einen hat die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den vergangenen Jahren durch die hohe Inflation massiv nachgelassen.“

Geld spielt im Alltag eine immer größere Rolle

Zum Anderen habe die Bedeutung des Geldes auch im Privatleben massiv zugenommen. „Früher spielte Nachbarschaftshilfe oder gegenseitige Unterstützung etwa von Vereinsmitgliedern ein größere Rolle. Aufgaben, die damals unentgeltlich gegenseitig geleistet wurden, werden heute von Profis gegen Bezahlung erledigt“, sagt Witich Roßmann.

Die aktuell sehr häufigen Streiks verteidigt der DGB-Chef wenig überraschend. „Die Arbeitgeber glauben sich zu mächtig in vielen Fällen. Alle paar Jahre müssen sie daran erinnert werden“, sagt Roßmann. Arbeitskämpfe seien auch notwendig, weil viele neue Branchen bei Löhnen und Gehältern oft weit abgeschlagen seien.

Bei der Kontraktlogistik im Automobilbau sei man vor Jahren 25 bis 30 Prozent hinter den Löhnen der eigentlichen Autobauer zurückgefallen. Doch nicht immer müsse es, um das zu beseitigen, zu Streiks kommen. Manchmal reichten Betriebsversammlungen, um die Produktion stillzulegen und den Arbeitgebern ihre Grenzen aufzuzeigen.

Babyboomer gehen bald

Eine langfristige Trendwende hin zu steigenden Mitgliederzahlen sei der skizzierte Trend aber noch nicht, hat Verdi-Chef Frank Werneke sofort gewarnt. Die eigentliche Bewährungsprobe, der massenhafte Wechsel der Babyboomer-Jahrgänge in den Ruhestand, steht auch den Gewerkschaften noch bevor.

„Es wird nicht nur darum gehen, weiterhin neue Mitglieder zu gewinnen“, warnt Tarifexperte Reinhard Bispinck. „Viel wird auch davon abhängen, ob die Gewerkschaften die bislang neu gewonnenen Mitglieder auch halten können.“ In Krisenbranchen wie dem Baugewerbe sei es zudem sehr schwer, neue Mitglieder zu finden.

Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung, sieht aber auf absehbare Zeit eine grundsätzlich starke Position der Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt, die die Gewerkschaften nutzen könnten. Arbeitnehmer entwickelten angesichts der hohen Nachfrage ein „neues Selbstbewusstsein“ zum Wert ihrer Arbeit und forderten eine entsprechende Wertschätzung ein. Sie wollten aber aktiv in die gewerkschaftliche Arbeit eingebunden werden.

Streikzeiten sind gute Zeiten zur Mitgliederwerbung

Von einem langfristigen Trend will der Gewerkschaftsforscher Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der Wirtschaft (IW Köln) nicht sprechen. Es sei den Gewerkschaften im vergangenen Jahr aber sehr gut gelungen, ihre zunehmend aggressiven Arbeitskämpfe zur Mitgliederwerbung zu nutzen.

Gute Beispiele sind Verdi oder die NGG, die 2023 in einer zersplitterten Niedriglohnbranche mehr als 400 Arbeitskämpfe geführt und häufig zweistellige Lohnzuwächse erreicht hat. Streikzeiten sind gute Zeiten zur Mitgliederwerbung, das gilt auch für die konkurrierenden Eisenbahngewerkschaften EVG und GDL.

Die Ampel kann einiges tun

WSI-Forscher Schulten sieht für die regierende Ampel-Koalition hingegen mehrere Handlungsfelder, die letztlich den Gewerkschaften zugute kommen könnten. So sollten Subventionen und öffentliche Aufträge nur noch an tariftreue Firmen gehen und einmal abgeschlossene Tarifverträge für die jeweilige Branche leichter allgemeinverbindlich erklärt werden. „Und drittens sollten die unsäglichen OT-Mitgliedschaften (ohne Tarif) in Arbeitgeberverbänden beendet werden, mit denen die Tarifflucht quasi offiziell hoffähig gemacht wird.“ (mit dpa)

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