Vorbild für Trump, Putin und Xi100. Todestag von Lenin – das Mastermind moderner Populisten

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Ein Lenin-Denkmal erinnert im Museumskomplex Gorki Leninskije unweit der russischen Hauptstadt Moskau an den Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Uljanow (1870-1924), der vor 100 Jahren an dem Ort starb.

Ein Lenin-Denkmal erinnert im Museumskomplex Gorki Leninskije unweit der russischen Hauptstadt Moskau an den Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Uljanow (1870-1924), der vor 100 Jahren an dem Ort starb.

Er steht in manchen Städten: Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Vor 100 Jahren ist er gestorben. Sein Politikverständnis aber ist erstaunlich modern – und gefährlich.

Da steht er, breitbeinig, 3,50 Meter groß, die Hände lässig in den Manteltaschen vergraben, die Augen gen Südost blinzelnd. Vom estnischen Bildhauer Jaak Soans 1985 in Bronze gegossen hat Wladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin, in Mecklenburg-Vorpommerns Landeshauptstadt Schwerin bislang alle Stürme der Zeit überlebt. Der irdische Lenin, Revolutionär, marxistischer Theoretiker, sowjetischer Staatsbegründer und im Unterschied zur Bronzestatue lediglich 1,65 Meter klein, starb vor genau 100 Jahren am 21. Januar 1924.

Die langen Schatten des kleinen Revolutionärs, die des menschlichen wie des nachgebildeten, reichen bis in die Gegenwart und sorgen für Zoff. Darf ein Denkmal, das einem Massenmörder huldigt, im demokratischen Deutschland stehen bleiben?

Man stellt sich ja auch keinen Göring in die Landschaft.
Jörg Baberowski, Historiker

Mehr als 50 Lenin-Denkmäler gab es einst in Deutschland, überwiegend auf dem Gebiet der DDR. Geblieben ist eine Handvoll, unter anderem in Merseburg, Riesa und eben Schwerin. Weltweit, so steht es zumindest im Guinnessbuch, zählt man rund 6000 Lenin-Skulpturen, nur von Buddha gibt es noch mehr.

Der sowjetische Staatsgründer Wladimir Iljitsch Lenin, aufgenommen 1918 in Moskau.

Der sowjetische Staatsgründer Wladimir Iljitsch Lenin, aufgenommen 1918 in Moskau.

Dass Lenin in Deutschland weiterhin mit Denkmälern gewürdigt wird, hält Professor Jörg Baberowski, an der Humboldt-Universität zu Berlin spezialisiert auf sowjetische Geschichte und stalinistischen Terror, „aus moralischer Perspektive für nicht angemessen. Man stellt sich ja auch keinen (Hermann, Anm. d. Red.) Göring in die Landschaft“.

Noch vor Jahren hätte eine solche Bemerkung für Empörung gesorgt. Als „Regisseur“ der Russischen Revolution von 1917 wurde Lenin auch im Westen idealisiert, bei Anhängern genoss er geradezu einen Heiligenstatus, bei Gegnern zumindest Respekt. Baberowski verweist indes auf „zehn Millionen Tote des Bürgerkrieges, zu denen natürlich auch die Opfer der weißen Gegenrevolution und der Hungersnot gehören“. Klar sei das etwas anderes als der von den Nazis ausgelöste Holocaust, darüber sei man sich einig. „Doch unbestritten verfolgten Lenin und seine Genossen ein Programm, das auf die systematische Ermordung von Menschen hinauslief. Dazu gehörte die Erschießung von Geiseln, die Einrichtung von Konzentrationslagern und die Deportation von Kollektiven. Das alles begann 1918 und ist mit Lenin verbunden“, sagt der Historiker.

In der DDR genoss Lenin nach sowjetischem Vorbild eine Art Heiligenstatus. Von dem Mann, der eigentlich nur sechs Jahre die Geschicke der Sowjetdiktatur lenkte, wurde das Bild eines cleveren, visionären, bescheidenen Kümmerers gezeichnet, der auch nach seinem Tod als Folge eines Attentats nie wirklich aus dem Bewusstsein der Menschen verschwand. Auch, weil er als Leichnam konserviert in einem Mausoleum ruhte und jährlich von Millionen angestarrt wurde – ein Heiliger, um den die atheistische Sowjetunion einen bizarren Auferstehungskult zelebrierte.

Friedrichshain: „Good Bye, Lenin!“

Ein Heiliger war Lenin aber nie, sondern ein „brachialer Machttechniker“, wie Baberowski ihn nennt. „Im Gegensatz zu seinen politischen Gegnern hat Lenin sehr wohl verstanden, dass Russland nicht Deutschland oder Frankreich war, dass man mit der Entfachung von Leidenschaften in einem Bauern- und Vielvölkerstaat, in dem die meisten Menschen Analphabeten waren, mehr erreichen konnte als mit der Verbreitung politischer Konzepte.“ Lenin habe sehr gut verstanden, „wo die Grenzen repräsentativer Demokratie in Ländern sind, in denen Menschen überhaupt keine Möglichkeit haben, von ihren Rechten Gebrauch zu machen, weil sie hungern oder arm sind“.

Hier liegt für den Historiker begründet, „warum das sowjetische Mobilisierungs- und Erziehungsregime, so wie Lenin es entwarf, in Europa keinen Erfolg hatte, wohl aber in Afrika, Asien und Lateinamerika“. Lenin brandmarkte laut Baberowski „die repräsentative Demokratie als eine Form bürgerlicher Herrschaft, die nur vorgibt, dass Menschen Rechte haben und an Entscheidungen beteiligt werden, die sie in Wahrheit aber gar nicht treffen können“.

Das größte und bedeutendste Lenin-Denkmal der DDR stand im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain. Drei Tage vor Lenins 100. Geburtstag am 19. April 1970 enthüllt, wurde die 19 Meter hohe Figur nach 21 Jahren wieder abmontiert – verewigt im Kinofilm „Good Bye, Lenin!“.

Der 1,70 Meter hohe Granitkopf des Revolutionärs wurde im märkischen Sand verbuddelt, dann wieder ausgegraben und kann heute im Magazin der Zitadelle Spandau besichtigt werden – neben einem monumentalen Bronzepferd des Nazi-Bildhauers Josef Thorak und allerlei Statuen preußischer Fürsten.

Ideen auf gefährliche Weise modern

Auch wenn Lenins Kopf in einer Art „Jurassic Park“ für ausrangierte Denkmäler gelandet ist – seine Ideen sind auf gefährliche Weise modern. Nicht unbedingt im ultranationalistischen Russland des Autokraten Wladimir Putin. Hier sei Lenin faktisch bedeutungslos geworden, was laut Baberowski damit zu tun habe, „dass Lenin der Zerstörer des zarischen Imperiums war, Stalin hingegen derjenige, der die alte imperiale Größe wiederherstellte. Deshalb ist Stalin sehr viel populärer als Lenin“.

Trotz dieser Geringschätzung trage das heutige Russland „genetisch“ eine nicht zu überschätzende Portion Lenin in sich. „Der von Lenin begründete Staat beruhte nicht auf Recht und Tradition, sondern verströmte den Geist des Krieges. Man könnte auch sagen, dass der bolschewistische Staat im Krieg geboren wurde“, sagt Baberowski. „Auf den Bürgerkrieg folgten die Hungersnot, die Zwangskollektivierung, der Massenterror, dann der Zweite Weltkrieg. Natürlich bleibt eine solche Gewalt nicht folgenlos – für Opfer wie für Täter, die ein Wissen darüber haben, dass erfolgreich sein wird, wer Gewalt einsetzt.“

Als Revolutionär und später Politiker, der ethisch-moralische Grenzen sprengte, Ressentiments aufgriff und verstärkte, kann Lenin heute als Vordenker moderner Populisten bezeichnet werden. „Er war einer der ersten populistischen Politiker, der Stimmungen und Ressentiments aufnahm und für seine Zwecke mobilisierte. Das hat er auf geniale Weise vorgeführt“, sagt der Historiker.

Dabei sei vielen Populisten von heute gar nicht bewusst, wie viel Lenin in ihrer Rhetorik stecke. „Lenins Vorstellung von Freiheit beruhte auf der Prämisse, dass frei sei, wer die Koordinaten verschiebt, wie der slowenische Philosoph Slavoj Zizek über den sowjetischen Staatsgründer gesagt hat. Der Ort der Freiheit ist nicht die Rechtsordnung, in deren Rahmen gehandelt werden kann, sondern der Wille, hier und jetzt zu tun, was man tun will“, erläutert Baberowski. Wer denkt da nicht an Donald Trump und die Erstürmung des US-Kapitols? An Reichskriegsflaggen vor dem Bundestagsgebäude? „Populisten dieser Art verstehen Freiheit nicht als das Vermögen, sich innerhalb eines vorgegebenen Rechtsrahmens über Möglichkeiten zu verständigen, sondern das politische System wegzuräumen, das sie daran hindert, Grenzen zu überschreiten“, sagt der Historiker. „Lenin hätte verstanden, was solche Leute tun.“


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