Fall Emanuela OrlandiDas Mädchen, das im Vatikan verschwand

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Vor 40 Jahren verschwand Emanuela Orlandi. Wusste der Papst über den Fall Bsescheid?

Vor 40 Jahren verschwand Emanuela Orlandi. Wusste der Papst über den Fall Bsescheid?

Ein verschwundenes Mädchen im Vatikan? Was nach einem Krimi klingt, ist so tatsächlich passiert. Vor 40 Jahren verschwand ein junges Mädchen. Bis heute fehlt von ihm jede Spur.

„Im Vatikan gibt es einen, der etwas weiß und seit vielen Jahren schweigt, ein Komplize derer, die die Verantwortung für das Verschwinden meiner Schwester tragen“, das schreibt Pietro Orlandi 2013 an Papst Franziskus. Da sind bereits viele Jahre vergangen, in denen seine Schwester nicht gefunden werden konnte.

Es ist ein heißer Sommertag, die Temperaturen übersteigen nach und nach die 25 Grad, als Emanuela Orlandi verschwindet. Sie ist Tochter eines Vatikanangestellten. Gut ein Dutzend Familien von Bediensteten leben im Stadtstaat, ein paradiesischer Spielplatz, fast komplett geschützt von der historischen Stadtmauer. Emanuela kommt gerade vom Musikunterricht in der Altstadt Roms. Jeden Mittwoch übt sie dort das Klavier- und Querflötenspielen. 15 Minuten früher als sonst verlässt sie die Musikschule, um nach Hause zu fahren.

Hat der Papst gewusst, was mit Emanuela passiert ist?

Sie telefoniert noch mit ihrer Schwester Frederica, erzählt ihr, dass sie den Bus verpasst hat und später komme. Ein Mann habe sie auf der Straße angesprochen und sie gefragt, ob sie nicht bei einer Modenschau mitmachen wolle. Ihre Schwester bittet sie, sofort nach Hause zu kommen. Doch da kommt sie nie an.

Am 22. Juni 1983 verschwindet das 15-jährige Mädchen mitten im Vatikan. Seine Familie ruft bei der Musikschule an, bei Freundinnen, telefoniert sich durch alle Krankenhäuser, Bruder Pietro sucht die Gegend auf seinem Motorrad ab. Emanuela bleibt verschwunden.

Emanuela Orlandi verschwand vor 40 Jahren spurlos.

Emanuela Orlandi verschwand vor 40 Jahren spurlos.

Zwei Wochen später liegt die Angelegenheit beim Papst. Am Sonntag, dem 3. Juli 1983, spricht Johannes Paul II. während eines wöchentlichen Auftritts auf dem Petersplatz zum ersten Mal über das Verschwinden des Mädchens. Zu dem Zeitpunkt ist noch nicht klar, ob Emanuela entführt, getötet oder vielleicht sogar noch am Leben ist.

Er sagt: „Zum Schluss möchte ich meine aufrichtige Anteilnahme bekunden und meine Nähe zur Familie Orlandi. Sie macht sich große Sorgen um ihre 15-jährige Tochter Emanuela. Seit dem 22. Juni ist sie nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Ich teile die Ängste und das Leid der Eltern. Ich hoffe auf die Menschlichkeit dessen, der für diesen Fall verantwortlich ist.“ Hat der Papst gewusst, was mit Emanuela passiert ist?

Geisel der „Grauen Wölfe“ oder der Mafia?

Es gibt eine Menge Hinweise, viele Verschwörungsmythen ranken sich um das Verschwinden des Mädchens. Erocole Ernandi, Emanuelas Vater, spricht einen Tag nach dem Verschwinden mit zwei römischen Zeitungen. Zahlreiche vermeintliche Mitwisser melden sich. Als bekannt wird, dass Emanuelas Vater im päpstlichen Haushalt arbeitet und ihre Familie damit zum engsten Kreis des Vatikans gehört, gibt es immer mehr Hinweise von angeblichen Tätern und Tippgebern. Emanuela soll von den „Grauen Wölfen“ entführt worden sein, um Ali Agca freizubekommen, der ein Attentat auf Papst Johannes Paul II. verübte. Er schoss drei Kugeln auf den Heiligen Vater, der schwer verletzt überlebte.

FILE - Pietro Orlandi wears a placard with a picture of his sister Emanuela during a sit-in near Saint Peter's Basilica, in Rome, Saturday, Jan. 14, 2023. One of the Vatican’s enduring mysteries took another twist Friday, April 14, 2023, with the Vatican pushing back hard against “slanderous” insinuations that St. John Paul II was involved in a molesting young girls. (AP Photo/Gregorio Borgia, File)

Pietro Orlandi, der Bruder der verschwundenen Emanuela, bei einer Protestkundgebung in Rom Anfang des Jahres.

Im August 1983 gibt es einen weiteren Anruf bei der Polizei. Der Unbekannte beschreibt Emanuelas Kleidung detailgenau und behauptet, nicht nur das Mädchen, sondern auch die am 7. Mai 1983 verschwundene Mirella Gregori entführt zu haben. Ein Anruf beim italienischen Staatspräsidenten Sandro Pertini solle alles erklären, doch die Spur führt ins Nichts. Keines der Mädchen wird gefunden. Die angeblichen Hinweise erweisen sich erneut als reine Spekulation.


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Laut einer anderen Theorie soll Emanuela von der römischen Mafia, der „Magliana-Bande“, entführt worden sein. So sollen sie von der Vatikanbank eine hohe Geldsumme zurückerhalten, die der Bandenboss Enrico De Pedis der Bank zum Waschen übergeben haben soll. Der Mafioso soll sich das entführte Mädchen noch zur Geliebten gemacht haben. Einer anderen Spekulation zufolge soll Emanuela von einem hohen Beamten der Kurie missbraucht worden sein.

Es scheint, als sei der gesamte Stadtstaat auf der Suche nach Emanuela durchkämmt worden: Die Pilgergräber der Prinzessinnen Sophie von Hohenlohe und Charlotte Friederike zu Mecklenburg, die Gruft des 1990 erschossenen Enrico De Pedis, der Campo Santo Teutonico, sogar im Haus eines Wächters auf dem Grundstück der Apostolischen Nuntiatur in Rom wird nach ihr gesucht. Emanuela oder ihre Leiche werden trotzdem nie gefunden.

Emanuela Orlandi: Ermittlungen aufgenommen, Ermittlungen eingestellt

Die Ermittlungen zum Verschwinden von Emanuela Orlandi enden da aber nicht. Zweimal gibt es Untersuchungen zu dem Fall, zuerst von 1983 bis 1997 und später von 2008 bis 2015. Sie liefern keine Antworten. Der Fall beschäftigt sogar die italienische Politik. Im März 2023 stimmt eine der zwei Parlamentskammern in Rom für einen Untersuchungsausschuss.

Emanuelas Bruder Pietro gibt bis heute die Suche nicht auf. Er macht weiter Druck. 2023 beschließt die Justiz des Kirchenstaates schließlich, erstmals offizielle Ermittlungen einzuleiten. Es soll dem Verdacht und den Hinweisen nachgegangen werden, ob Emanuela entführt oder ermordet wurde. „Das sind gute Nachrichten“, sagt Pietro Orlandi. Eine Spur zu seiner Schwester gibt es bisher aber nicht.


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