„Wenn man alles gelernt hat, ist es zu spät“

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KÖLNER STADT-ANZEIGER: Tomi Ungerer, ist Ihnen angesichts Ihres 75. Geburtstages feierlich zumute?

TOMI UNGERER: Was ist der Unterschied zwischen 75 und 73? Ich werde von zu Hause fliehen, um nicht feiern zu müssen. Ich habe schon genug Albträume. Jede Nacht. Ich werde verhaftet. Ich finde meine Familie nicht. Ich habe allerdings einen Trick: Jeden Morgen sage ich mir, du bist Hauptdarsteller eines Horrorfilms. So halte ich das Ganze einigermaßen aus.

Es wird immer beschwerlicher für Sie, Termine wahrzunehmen.

UNGERER: Ich habe drei Herzinfarkte hinter mir, einige „Tumore mit Humore“, wie ich immer sage, und ein blindes Auge zurückbehalten. Sollte ich Ende des Jahres ganz blind sein, bleibt mir künstlerisch nur noch das Kneten. Mit nur noch einem Auge eine neue Technik des Zeichnens zu finden, war allerdings eine tolle Erfahrung. Einäugig spürt man den Druck des Pinsels auf dem Papier nicht mehr. Ich habe beim Kolorieren immer über die Umrisse meiner Figuren hinweggemalt. Das habe ich überwunden. Ich habe das Zeichnen neu gelernt. Darauf bin ich sehr stolz.

Wovon handelt Ihr neues Kinderbuch, das im kommenden Frühjahr bei Diogenes herauskommt?

UNGERER: Wenn ich ein Kinderbuch schreibe - ich schreibe immer zuerst, dann mache ich die Zeichnungen dazu - bleibe ich mein eigenes Kind. Dieses Mal ist es die Geschichte einer schwarzen Familie, die in eine weiße Nachbarschaft kommt. Ich habe es in Englisch geschrieben. Es heißt „Making friends“. Der Vater kauft dem Jungen kein Spiel-, sondern nur Werkzeug, damit er sich, wenn er schon keine „echten“ Freunde findet, seine Freunde basteln kann. Der Junge geht in den Holzschuppen und zimmert sich aus Abfällen allerhand merkwürdige Sachen. Nebenan zieht eine asiatische Familie ein. Das Mädchen meint, man müsste den neuen Kreaturen etwas anziehen. Und schon sitzen die beiden an der Nähmaschine. So bauen sie sich ihre eigene Welt. Am Ende kommen die Skulpturen in ein Museum, der Junge wird ein Star.

Klingt ein bisschen wie Ihre eigene Geschichte.

UNGERER: Ja, ich musste mir als elsässisches Kind, eingekeilt zwischen Frankreich und Deutschland, auch meine eigenen Freunde basteln. Die Kunst war für mich auch ein Weg, mich gegen meine viel älteren und lauteren Geschwister durchzusetzen. Ich wurde nie ernst genommen, mir hat nie einer zugehört, ich musste mich immer beweisen. Deshalb rede ich auch heute noch immer viel zu laut.

Ihr Vater starb, als Sie dreieinhalb Jahre alt waren.

UNGERER: Das war mein erstes Trauma. Aber ich wäre nicht der geworden, der ich bin, wenn mein Vater nicht gestorben wäre. Er war Uhrmacher, Künstler, Schriftsteller, ein echter Renaissance-Mann. Ich spüre ihn noch heute jedes Mal, wenn ich eine neue Arbeit anfange, wie einen Besucher an meiner Seite. Das Wichtigste, was er mir hinterlassen hat, ist eine fantastische Bibliothek.

In Ihrem Kinderbuch „Kein Kuss für Mutter“ (1974) nehmen Sie die übermäßige Liebe einer Katzenmutter zu ihrem Kind aufs Korn.

UNGERER: Meine Mutter ist mir oft auf den Wecker gegangen. Ich war ja das Nesthockerle in unserer Familie, der Jüngste, und musste täglich diesen Liebessturm über mich ergehen lassen, einen Lavastrom von Küssen. Ich habe ein Leben lang gebraucht, um mich davon zu befreien.

Ist Ihre Mutter das Urbild aller Frauen in Ihrem Leben?

UNGERER: Nein, ganz im Gegenteil. Meine Mutter war die schönste Frau in Straßburg. Und die schlauste. Sie hat ihre Schönheit gezielt eingesetzt, das war mir peinlich. Wenn Sie mit mir zur Gestapo ging, hatte sie sich immer besonders schön gemacht. „Heil Hitler!“, grüßte Sie immer brav. Mit ihrem Charme erwirkte sie, dass wir Ungerers, obwohl die Nazis den Gebrauch der französischen Sprache im Elsass unter Strafe stellten, weiter Französisch sprechen durften. Heute bin ich dem Pragmatismus meiner Mutter sehr dankbar.

Woher kommt dann Ihre Faszination für das Weibliche?

UNGERER: In der Natur gibt es nichts Schöneres als die Frauengestalt. Jede Frau, hat sie erst einmal einen schwarzen Lederriemen in der Hand und trägt dazu schwarze Strümpfe, wirkt erotisch. Je nach Geschmack.

Ihre erotischen Bücher waren nicht unbedingt nach dem Geschmack einflussreicher Feministinnen. Sie sahen darin Pornografie und gingen auf die Barrikaden.

UNGERER: Ein großes Missverständnis. Aber ich habe lieber eine Barrikade als einen Stau auf der Autobahn. Am Anfang musste sich der Feminismus eben sehr ernst nehmen. Es gab auch Ausnahmen. Die Wortführerin des amerikanischen Feminismus, Gloria Steinem, verstand die antipornografischen Satiren in meinem Buch „Fornicon“ (1970) und unterstützte es. Es war im Übrigen ein Buch der Zukunft. Die Mechanisierung und Maschinisierung von Sex ist heute Tagesgeschäft. Alles ist heute Sex. Im Elsass wollen sie nur noch Erotik-Etiketten auf den Weinflaschen.

Wie setzen Sie sich mit dem Tod auseinander?

UNGERER: Ein weiteres, übernächstes Kinderbuch ist halb fertig. Es geht darin um einen Mann, der nach dreieinhalb Jahren Liegen im Sarg beschließt, dass das Leben da unten in der Erde langweilig sei. Er steigt aus dem Grab, kehrt nach Hause zurück, kneift seiner Frau in die Nase: „Da bin ich wieder!“ Am nächsten Morgen zieht das Skelett seine alten Kleider an. Ein komischer Anblick. Wenn er pinkelt, läuft alles durch. Er wird zur Schule seiner Kinder gerufen, weil dort ein Terrorist um sich schießt. Die Kugeln zischen zwischen seinen Knochen durch. Dem Toten wird als Lebensretter ein Denkmal gesetzt.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

UNGERER: Ich lag einmal im Koma. Eine Todeserfahrung. Es waren die schönsten Momente meines Lebens. Dieser Frieden, dieses Licht, kein Schuldgefühl. Ich habe eine Art Sehnsucht nach dem Tod. Nach den überstandenen Herzinfarkten fühle ich mich sprungbereit, heuschrecklich. Wenn ich nur die Energie hätte, alles noch zu Ende zu bringen, was ich noch vorhabe! Man braucht ein ganzes Leben, um zu lernen, dass, wenn man alles gelernt hat, es zu spät ist, das Gelernte für sich zu nützen.

Das Gespräch führte Hajo Steinert

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