1976 in Montreal und 1984 in Los AngelesLaufend Medaillen gesammelt

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Ordnerweise hat Brigitte Kraus Zeitungsausschnitte gesammelt, die an ihre sportliche Leistung erinnern. BILD: NONNENBROICH

Ordnerweise hat Brigitte Kraus Zeitungsausschnitte gesammelt, die an ihre sportliche Leistung erinnern. BILD: NONNENBROICH

Rhein-Berg – Mit der Aussage, dass sie ihre Medaillen im Keller aufbewahre, sorgt die ehemalige Leichtathletin und Olympiateilnehmerin Brigitte Kraus zunächst für Verwunderung. Doch dann kommt die gebürtige Bensbergerin aus dem besagten Untergeschoss ihres Hauses in Köln-Lövenich wieder nach oben, bepackt mit zwei prall gefüllten roten Kunststofftaschen. Und man beginnt zu ahnen, wieso die Auszeichnungen der Mittelstreckenläuferin nicht in ihrem Wohnzimmer an der Wand hängen: Es sind einfach zu viele. „Zum Glück bekommen Leichtathleten keine Pokale“, scherzt die 51-Jährige, die mit ihrer immer noch sehr schlanken Figur, dem kurzen Haar und einem verschmitzten Lächeln sehr viel jünger wirkt. Wie viele Medaillen sie besitzt, weiß sie nicht, aber sie sei 63-mal Deutsche Meisterin gewesen, erklärt sie in beiläufigem Ton.

Das Ergebnis ihres größten Erfolges, eine Silbermedaille im 3000-Meter-Lauf bei der Weltmeisterschaft 1983 in Helsinki, hat aber doch eine Art Ehrenplatz bekommen: „Die bewahre ich in einer Schublade in meinem Schlafzimmer auf.“ Eigentlich habe sie sich mit „diesen siebeneinhalb Runden“ aber nie so recht anfreunden können, am liebsten sei sie immer 1500 Meter gelaufen. „Je älter die Läufer werden, desto länger die Strecken“, erzählt Kraus und lacht. Im Alter verliere man an Grundschnelligkeit und gewinne an Ausdauer. Bei den Olympischen Spielen trat die Sportlerin in beiden Disziplinen an: 1976 in Montreal über 1500 Meter, 1984 in Los Angeles über 3000 Meter.

Dass sie einmal bei einem der größten Sportereignisse der Welt antreten würde, hätte sich Brigitte Kraus sicher nicht träumen lassen, als sie mit 13 Jahren mit dem Leichtathletik-Training begann. Gelaufen sei sie schon immer gerne und habe bei Bundesjugendspielen in der Schule meistens Ehrenurkunden erhalten. So war es ein Sportlehrer, dem ihr Talent auffiel und der sie dem Sportverein LG Rhein-Berg empfahl. Dort stellte sich die junge Kraus bei Trainer Lutz Müller vor, der sie über die gesamte Zeit ihrer Karriere als Leistungssportlerin und darüber hinaus begleiten sollte, und 1975 mit ihr zum ASV Köln wechselte. Als Kraus etwa 15 Jahre alt war, wurden sie und ihr 13 Jahre älterer Trainer auch privat ein Paar, eine Beziehung, die immerhin sechs Jahre lang hielt. „Für meine Eltern war das anfangs nicht leicht“, erinnert sich die Sportlerin.

Papa aus der Puste

Ebenfalls nicht leicht hatte es ihr Vater, als er seine gerade 13-jährige Tochter bei ihrer ersten Trainingseinheit begleitete: zehn Minuten Dauerlauf. „Mein Vater hat nie Sport gemacht und war danach fix und fertig“, erzählt Kraus lächelnd. Obwohl ihre Eltern sie immer unterstützt hätten, sei ihr Vater nie wieder mitgekommen zum Training. In der darauf folgenden Zeit trainierte die Leichtathletin zwei- bis dreimal in der Woche, und das trug schon sehr bald Früchte: 1971, mit 14 Jahren, errang Brigitte Kraus erstmals den Titel als Deutsche Jugendmeisterin. „Für unseren kleinen Verband war das eine Sensation“, erinnert sie sich. Von da an wurden Medien und Fachleute auf Brigitte Kraus aufmerksam, bei Wettkämpfen stand sie unter besonderer Beobachtung, und die Trainingseinheiten nahmen zu.

Im Olympia-Jahr 1976 trainierte die Läuferin erstmals zweimal täglich - worauf sie im Nachhinein ihren Erfolg zurückführt. „Der Deutsche Leichtathletikverband hatte die Normen damals sehr hochgesteckt, weil die Sportlerinnen aus dem Ostblock so schnell waren“, erzählt sie. 4,08 Minuten über 1500 Metern musste laufen, wer sich für die Olympischen Spiele qualifizieren wollte. Beim Länderkampf in München schaffte Kraus ihre neue Bestzeit: 4,06 Minuten, somit hatte sie ihr Ticket für Olympia in der Tasche: „Da stand die Sportwelt Kopf.“

In Montreal war für die damals 20-Jährige „alles Neuland“, was sie jedoch nicht davon abhielt, den ersten Vorlauf für sich zu entscheiden, gegen die Favoritin Gunhild Hofmeister aus der damaligen DDR. Im Zwischenlauf hatte Brigitte Kraus jedoch Pech: „Auf den letzten 150 Metern bekam ich einen Tritt in die Ferse und geriet ins Stolpern. Bis ich meinen Laufrhythmus wiedergefunden hatte, waren alle weg.“ Trotzdem lief sie die 1500 Meter in 4:04 Minuten - das war deutscher Rekord. Bei den Olympischen Spielen reichte diese Zeit jedoch nur für Platz vier, und damit schied die Athletin aus. Enttäuscht war sie darüber zunächst nicht. „Ich war einfach glücklich über den guten Lauf.“ Später habe sie sich aber schon geärgert, weil der Endlauf, für den sich unter anderem ihre Mannschaftskollegin Ellen Tittel qualifiziert hatte, nicht sehr schnell gelaufen worden sei.

Der Smog über Los Angeles bereitete Probleme

1984, ein Jahr nach Kraus' großem Erfolg als Vize-Weltmeisterin, reiste sie zum zweiten Mal zu Olympischen Spielen, diesmal nach Los Angeles. Über die 3000 Meter-Distanz galt die Deutsche als Mitfavoritin, musste aber nach 2000 Metern aufgeben: „Mir war übel und ich bekam keine Luft mehr.“ Die schlechte Luft, der Smog über der Metropole, hatte ihr Probleme bereitet, aber auch, wie später festgestellt wurde, ein Überdruck in der Lunge. „Das war die größte Enttäuschung meines Lebens“, sagt Kraus. „Danach wollte ich nie wieder laufen.“ Tat sie aber doch, nachdem sie die Saison abgebrochen hatte und ihre Lunge mit Medikamenten behandelt worden war. Im Alter von 34 zog die Leichtathletin jedoch einen Schlussstrich: Das Staffelrennen bei den Deutschen Meisterschaften 1990 in Heilbronn war ihr letztes. „Ich konnte einfach keine Motivation mehr aufbringen“, erklärt sie.

Weil sie zur gleichen Zeit auch noch ihre Arbeitsstelle als Technische Zeichnerin verlor, fiel Brigitte Kraus nach dem Ende ihrer sportlichen Karriere erstmal in ein Loch, wie sie sagt. Zwar hätte sie es genossen, plötzlich so viel freie Zeit zu haben, aber das Laufen, das viele Unterwegssein und der Kontakt zu anderen Sportlern hätten ihr gefehlt. Nach einem Jahr lösten sich mehrere ihrer Probleme auf einmal: „Ich fand eine Teilzeitstelle - an der Rezeption beim ASV Köln“, erzählt Kraus. Ihr Sportverein sei schließlich ihr zweites zu Hause, da kenne sie sich aus. Davon motiviert, begann sie auch wieder zwei- bis dreimal in der Woche zu laufen, im Kölner Stadtwald.

1978 war Brigitte Kraus von Bensberg nach Köln-Lövenich umgezogen. Heute lebt sie dort in einem Reihenhaus mit ihrem Ehemann, dem ehemaligen Mittelstreckenläufer Roland Jaroschek, und ihrem 13-jährigen Sohn Patrick. Wenn sie für den begeisterten Fußballer nicht gerade „Taxi Mama“ spielt, beschäftigt sie sich in ihrer freien Zeit mit der Gartenarbeit oder trifft sich mit Freunden zu Fahrradtouren.

Auch wenn Brigitte Kraus die Namen der meisten Leichtathleten heute nicht mehr kennt, wie sie erzählt, sehe sie sich gerne noch Wettkämpfe an. Das tut sie sowohl vor Ort - wie bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2009 in Berlin - als auch im Fernsehen, wie im Fall der Olympischen Spiele in China. „Ich selbst war damals unbeschreiblich stolz, bei Olympia dabei zu sein“, erinnert sie sich. „Das ist für jeden Sportler etwas ganz Besonderes.“ Traurig mache sie jedoch, dass das Thema Doping trotz verbesserter Kontrollen nicht in den Griff zu bekommen sei: „Gute sportliche Leistungen müssen leider immer hinterfragt werden.“

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