22.5.2000: Eine Mauer aus Schweigen und Gerüchten

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Ein Bild aus vergangenen Tagen: In der Kölner Ulu-Camii-Moschee feiern Anhänger zusammen mit Metin Kaplan den fünften Jahrestag des "Kalifatsstaates".

Ein Bild aus vergangenen Tagen: In der Kölner Ulu-Camii-Moschee feiern Anhänger zusammen mit Metin Kaplan den fünften Jahrestag des "Kalifatsstaates".

Ottmar Breidling versucht die Contenance zu bewahren. Es ist der 14. Verhandlungstag im Staatsschutz-Prozess gegen den selbst ernannten Kölner Kalifen Metin Kaplan und seine beiden Vertrauten Hasan Basri Gökbulut und Harun Aydin. Der Vorsitzende des 6. Strafsenats am Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf ringt sichtlich um Fassung. Wieder einmal liefern Kaplan-Anhänger im Zuschauerraum ein bühnenreifes Stück. Die Szene erinnert an die Tumulte zum Auftakt des mühseligen Prozesses, in dem es um einen Mordaufruf gegen einen abtrünnigen Kaplan-Anhänger geht und um die Bildung und Rädels-Führerschaft einer kriminellen Vereinigung innerhalb des Kölner Verbandes türkischer Fundamentalisten namens "Kalifatsstaat". Während der Sitzung betritt ein muslimisches Ehepaar den Gerichtssaal. Breidling unterbricht die Zeugenvernehmung und bittet die bis auf einen Augenschlitz verhüllte Frau, zumindest die Gesichtspartie zu entblößen, um eine bessere Identifizierung zu ermöglichen. Die Frau nestelt irritiert an ihrem Schleier, lässt aber davon ab, als ihr Mann sie anherrscht. Breidling beharrt jedoch auf seiner Aufforderung. Daraufhin schiebt der Mann die Frau in Richtung Ausgang. An der Tür brüllt der Kaplan-Jünger auf Deutsch das Wort "Drecksau" in Richtung Senat. Breidling ordnet für den Störer Saalhaft an, doch als die Beamten ihn abführen wollen, kommt es auf dem Gerichtshof zu einer Rauferei mit wütenden Kaplan-Getreuen. Die Polizeibeamten sind in der Minderheit, nach einer Reihe von von ruhig verlaufenen Sitzungen war ihre Präsenz abgebaut worden. Sie müssen den Gefangenen schließlich ziehen lassen. Und während drei Polizeibeamte ihre Blessuren im Krankenhaus behandeln lassen, feiern die Glaubensbrüder ihren Sieg. Das Häuflein Aufrechter beschwört johlend den Traum von einem islamischen Staat, in dem einzig die Scharia (islamisches Recht) das Maß aller Dinge ist. "Tod den Amerikanern, Tod den Israelis und Tod dem Atatürk" skandieren sie, offensichtlich noch einmal beflügelt von dem Machtbewusstsein früherer Kaplan-Veranstaltungen in der Kölner Zentrale. Zu Zeiten des Verbandsgründers Cemaleddin Kaplan waren sie unter den islamischen Extremisten eine feste Größe. Rund 6000 Mitglieder zählte der Verband. Er war so reich, dass am Todestag des Gründers Medienberichten zufolge ein millionenschwerer Goldkoffer an dessen Nachfolger und Sohn Metin übergeben worden sein soll. In den Versammlungen seien arabische Hocas (Geistliche) oder gar Mudschjaheddin-Führer aus Afghanistan als Gastredner aufgetreten, gaben Zeugen bei den Ermittlungen zu Protokoll. Bei den gut besuchten Veranstaltungen in der Ulu-Camii-Moschee im Kölner Stadtteil Nippes oder in der Kölner Sporthalle wurden Dias von Kämpfern der palästinensischen Terrortruppe "Hamas" als Zeichen für vorbildliches Märtyrertum präsentiert. Bei Spenden-Aufrufen waren seinerzeit sechsstellige Beträge zusammengekommen. Doch all das ist Vergangenheit: Am Tag nach der Rangelei im Gerichtshof ist die Euphorie im Düsseldorfer Hochsicherheitstrakt bereits wieder verflogen; mit stoischer Miene nimmt Metin Kaplan, jetziger Chef des auf rund 1300 Mitglieder geschrumpften Verbandes, auf der Anklagebank Platz. Richter Breidling warnt seine Anhänger im Saal: "Die Störer werden mit allen Mitteln verfolgt." Die Drohungen lassen die Zuhörer sichtlich kalt. Längst sehen sie sich in einer Reihe mit den islamischen "Märtyrerbrüdern" in Palästina, Afghanistan, Tscheschenien oder Bosnien. Und es bringt sie in Rage, ihren Heilsbringer auf der Anklagebank eines in ihren Augen gottlosen Staates zu sehen. Dabei hat der Vorsitzende Richter seit Prozessbeginn viel getan, um das angespannte Klima im Saal zu entschärfen: Damit die muslimischen Zuschauer nicht beim Eintreten der fünf Richter des Senats aufstehen müssen, werden sie später in den Hochsicherheitstrakt gelassen. Gebete im Hof sind zugelassen. Andererseits achtet Breidling peinlich genau auf seine Hoheitsrechte. Zeugenvernehmungen zelebriert er regelrecht. Der Senatsvorsitzende nimmt sich viel Zeit, fragt, hakt nach, im Zweifel vertagt er einen Punkt, um später nochmals darauf zu sprechen zu kommen. Er ist erkennbar auf Distanz bedacht. Tonfall und Wortwahl werden jedoch rauer, wenn sich Kaplan-Getreue im Zeugenstand seiner Meinung nach offensichtlich dumm stellen. Zu oft hat er seit Prozessbeginn im Februar die gleichen Antworten gehört: "Weiß ich nicht, kann ich nicht sagen." Stereotyp reagieren Kaplan-Sympathisanten auf Fragen nach der "Todesfetwa" (Gottesurteil), die das selbst ernannte "Oberhaupt aller Gläubigen" 1996 seinem abtrünnigen Berliner Gegenspieler Ibrahim Sofu entgegengeschleudert hatte. Ein Jahr später starb Sofu vor den Augen seiner Frau im Kugelhagel eines Mördertrios. Das Gottesurteil aus der Kölner Zentrale des Fundamentalisten-Verbandes sei zu keinem Zeitpunkt bindend gewesen, wiederholt der ehemalige Gebietsemir Hasan P. im Zeugenstand gebetsmühlenartig. Solange es nicht den ersehnten islamischen Staat auf türkischem Boden gebe, sei niemand aus der Gefolgschaft des Kölner Kalifen gezwungen, die Todesfetwa zu vollstrecken. Auch nicht gegen den "Ketzer" Sofu, der nach dem Tod des Verbandsgründers Cemaleddin Kaplan dessen Sohn Metin die Führung streitig machte und sich in Berlin zum Gegenkalifen küren ließ. Hasan P. ist ein wichtiger, wenn auch einsilbiger Zeuge: Er war einer der wenigen, der ein Fax mit der Todesfetwa aus der Kölner Zentrale des zum islamischen Sektierer-Grüppchen geschrumpften Verbandes erhalten haben soll. Beim Freitagsgebet in einer Augsburger Moschee verlas er im Juli 1996 die Fetwa und forderte, Sofu müsse der Kopf abgehackt werden. Zwei Jahre Freiheitsstrafe hatte das Augsburger Landgericht 1998 gegen ihn verhängt wegen dieses Aufrufs zu einer Straftat. Von einem Fax aus der Zentrale will der 35-Jährige heute nichts mehr wissen. "Aus eigenem Antrieb habe ich das verlesen. Ich habe nur die Worte des Propheten gesprochen, jeder andere Muslim weiß, wie er dies aufzufassen hat, denn schließlich ist zwar der Kalifatsstaat ausgerufen worden, aber bisher existiert der islamische Staat nicht wirklich", sagt der abgetretene Verbandsführer für Bayern. Vermutlich habe der türkische Geheimdienst Sofu erschossen, um den Mord dem Kölner Kalifen in die Schuhe zu schieben. Die Strafverteidiger eines der beiden mitangeklagten Kaplan-Vertrauten, Michael Murat Sertsöz und Uwe Krechel, halten diesen Verdacht sogar für plausibel: "Für die türkische Regierung gilt Kaplan als Staatsfeind Nummer eins, weil er versucht, einen Gottesstaat in der Türkei einzurichten." Das Interesse der türkischen Regierung an dem Prozess sei immens. Die Bundesanwaltschaft glaubt indessen, dass Kaplans Todesaufruf unter seinen Gefährten auf fruchtbaren Boden fiel, da die Verbandsmitglieder sich durch einen Treueeid zu unbedingtem Gehorsam dem Kalifen gegenüber verpflichtet haben. Inzwischen liegen dem Gericht zwei Gutachten von Islam-Wissenschaftlern vor, die die Linie der Bundesanwaltschaft bestätigen. Ein totalitärer islamischer Staat auf deutschem Boden sei längst existent gewesen, heißt es in der Anklage. Die Gebiete würden durch "Gouverneure" regiert, es gebe "Steuereintreiber", einen "Nachrichtendienst", und einen "Hohen Rat" um den Kalifen, der auch die Hand über eine holländische Stiftung halte, in der die Verbands-Einnahmen zusammenflössen. Mit diesem Geld finanziere der Verband seine eigentliche Machtbasis: die Moscheen. Die wesentlichen Entscheidungen im Verband, so berichteten mehrere Zeugen während der Ermittlungen, hätten die Angeklagten Metin Kaplan, Hasan Basri Gökbulut und Harun Aydin, der Herausgeber der Verbandszeitung, getroffen. Die Führungstroika soll auch besagte Todesfetwa entworfen haben. Zeuge Hasan P. musste auf Nachfragen sogar einräumen, dass Verbandsmitglieder nur mit Erlaubnis der Zentrale ins Ausland reisen durften. Breidling entfährt ein triumphierendes "Aha". Selten genug sind solche Momente. Denn die Beweisführung lässt sich äußerst zäh an: So schützt der Bruder des Ermordeten Sofu, der bei den polizeilichen Vernehmungen die Angeklagten schwer belastete, nun aus unerklärlichen Gründen ein Nervenleiden vor, um nicht vor Gericht erscheinen zu müssen. Ein weiterer Zeuge der Anklage berichtet, er sei vor seiner Vernehmung von einem anonymen Anrufer bedroht worden. Andere wissen vieles auch nur vom Hörensagen. Ein Anhänger des getöteten Gegenkalifen berichtet von Todeskriegern, die die Kaplan-Verbandsspitze ausgeguckt hatte, "wenn einmal jemand getötet werden muss". Es habe ferner eine Schlägertruppe in der Zent¦rale gegeben, um Abtrünnige zu verprügeln. Auch will der Zeuge von einem Testament wissen, in dem Kaplan-Senior nicht seinen Sohn Metin, sondern seinen Berliner Gegenspieler zum Nachfolger auserkoren hatte. Viele Aussagen entpuppen sich als kolportierte Gerüchte. Zum Beispiel über den mitangeklagten Schwager Kaplans, Hasan Basri Gökbulut, der als einflussreichster Verbandsfürst gilt. Aussteiger wollen wissen, dass er der Stratege hinter dem Kölner Kalifen sei. "Es wurde nach dem Mord an Sofu darüber geredet, dass Hasan Basri dafür in Frage käme", sagt ein junger Mann. Breidling: "Nur Überlegungen oder gab es konkrete Hinweise?" Antwort: "Es wurde erzählt, dass er schon mehrfach Fälle beseitigt haben soll, die in der Opposition waren. Ein Mann und eine Frau." Tatsächlich wurden die Mörder eines Abweichlers und der Ehefrau des Angeklagten Hasan Basri nie gefunden. Zübeyde Gökbulut starb im Juni 1996 in ihrer Düsseldorfer Wohnung durch einen Genickschuss. Sie lebte mit dem Angeklagten in Trennung. Ihre Angehörigen erzählten der Polizei, sie habe von betrügerischen Machenschaften in der Verbandsspitze berichtet und soll ihrem Mann gedroht haben, diese aufzudecken. Sie habe erzählt, dass Kaplan und sein Schwager Spendengelder beiseite geschafft hätten. Die Mutter der Ermordeten sagte den Ermittlern, Hasan Basri Gökbulut habe ihrer Tochter des Öfteren mit einer Schusswaffe bedroht. Auch hier ist vieles Hörensagen. Hasan Basri hat für die Tatzeit ein Alibi, die Ermittlungsakte ist geschlossen. Richter Breidling indes spricht auch diesen Punkt bei Zeugen immer wieder an. Er lässt nichts unversucht, den Schleier zwischen Gerücht und Wahrheit zu zerrei¦ßen. Da hat er die Ruhe weg.

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