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Kein VergessenNSU-Prozess nähert sich Ende – eine Reise zu den Tatorten

Lesezeit 8 Minuten
NSU Opfer Kombo

Die Bildkombo zeigt un­da­tierte Por­trät­fo­tos der zehn durch die Neo­nazi-Ter­ror­zelle NSU Er­mor­de­ten. (oben, v.l.) Enver Simsek, Ab­dur­ra­him Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic und die Po­li­zis­tin Michele Kie­se­wet­ter, sowie (unten, v.l) Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodorus Boul­ga­ri­des, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat.

Köln – Im dichten Gebüsch, vom bunten Herbstlaub bedeckt, hat jemand ein paar Plastikeimer abgestellt. Man erkennt sie in der Dämmerung nicht sofort, sie sehen aus, als gehörten sie zu einem geheimen Vorratslager. Solche Assoziationen sind der Besonderheit der kleinen Lichtung geschuldet.

Hier hat vor 17 Jahren die Mordserie des rechtsradikalen Terror-Netzwerks NSU begonnen, der zehn Menschen zum Opfer gefallen sind. „Eimer bitte stehen lassen“, steht auf einem kleinen Plastikschild, das vom Wind geschüttelt wird. Ab und zu macht hier ein türkischer Blumenhändler Station. Hier, wo am 9. September 2000 der Berufskollege Enver Simsek durch neun Pistolenschüsse regelrecht hingerichtet wurde.

Zweifacher Familienvater musste sterben

Die Liegnitzer Straße ist eine stark befahrene Ausfallstraße im Nürnberger Südosten. Die meisten Jogger und Spaziergänger nehmen schon lange keine Notiz mehr von dem schwarz umrandeten Foto des Ermordeten. Das Bild zeigt einen Mann mit Schnäuzer in seinen besten Jahren. Der zweifache Familienvater starb mit 39. An einem Stromkasten kleben noch Zettel mit einem Aufruf zur Kundgebung am Jahrestag von Simseks Ermordung vor ein paar Wochen: „Kein Vergeben, kein Vergessen“.

Der 9. September 2000, ein Sonnabend, ist ein milder Spätsommertag. Enver Simsek hat seinen weißen Kastenwagen in jener Parkbucht abgestellt. Auf dem Transporter ist sein Name in großen Lettern zu lesen. Normalerweise beliefert er vom hessischen Schlüchtern aus nur seine mobilen Verkaufsstände, an diesem Tag verkauft er selbst, weil ein Kollege in Urlaub ist.

Als seine Mörder kamen

Als seine Mörder zwischen 12.45 und 14.15 Uhr vermutlich aus dem Dickicht auf den Lieferwagen losstürmen, sortiert er die neue Blumen-Lieferung. Vier der Schüsse treffen seinen Kopf, einer die Brust. Zwei Tage später erliegt er im Südklinikum Nürnberg seinen schweren Verletzungen.

Seit 2014 erinnert ein Gedenkstein an das erste Opfer des NSU. Die Initiative ging von Kirchengemeinden und Vereinen der Trabantenstadt Langwasser und mehrerer Nachbarstadtteile aus. Frische Gerbera verdecken das Bibelzitat aus dem dritten Buch Mose: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Land, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch.“

Lange, sehr lange hatte Adile Simsek, die Witwe, nicht die Kraft gefunden, den Tatort aufzusuchen. Wie praktisch alle Angehörigen der NSU-Mordopfer hat auch sie zusätzlich zu ihrer Trauer eine lange Leidensgeschichte durchmachen müssen. Die Polizei bezichtigte ihren getöteten Mann aufgrund unerträglicher Verdächtigungen des Drogenhandels. „Ihr bedeutet es sehr viel“, berichtet ihre Anwältin Seda Basy, „dass die Stele von Bürgern gestiftet worden ist und nicht von Politikern.“

Die Frage nach dem Warum bleibt

Mehr als vier Jahre nach Beginn des NSU-Mammutprozesses vor dem Oberlandesgericht München gibt es keine schlüssige Antwort auf die Frage, warum Enver Simsek sterben musste. Abenteuerliche Mutmaßungen kursierten. Kann es für die Mörder in ihrer Verblendung eine Rolle gespielt haben, dass er seinen Blumenstand auf dem Boden des ehemaligen Reichsparteitags-Geländes aufgebaut hatte? Für die drei Nürnberger Tatorte gibt es kein erkennbares Muster, ebenso wenig wie es irgendeine Verbindung zwischen den Opfern gegeben hat.

Abdurrahim Özüdogru wird kaltblütig ermordet

Die Gyulaer Straße im Nürnberger Süden ist eine ruhige Wohnstraße. Am Ladenlokal an der Ecke Siemensstraße sind die Rollos heruntergelassen. Eisengitter versperren den Zutritt. „Hier war es“, sagt eine Anwohnerin und zeigt auf eine schlichte Info-Tafel an der Hauswand. Am 13. Juni 2001, nachmittags gegen 16.30 Uhr, wird Abdurrahim Özüdogru in seiner Änderungsschneiderei kaltblütig ermordet. Ein Schuss durchschlägt seinen Kopf, ein zweiter wird aus kürzester Entfernung auf seine rechte Schläfe abgegeben. Er ist auf der Stelle tot.

Özüdogru, schon mehr als 20 Jahre in Deutschland, bessert seinen Schichtarbeiter-Lohn durch das Umnähen und Ausbessern von Kleidung ein wenig auf. Bevor sie ihr Opfer liegen lassen, fotografieren die Täter den Sterbenden. Das Bild hat in das zynische NSU-Bekenner-Video „Paulchen Panther“ Eingang gefunden. Eine Stimme sagt aus dem Off: „Özüdogru ist nun klar, wie ernst es uns mit dem Erhalt der deutschen Nation ist.“

Ismail Yasar stirbt nach fünf Schüssen in den Kopf

Das dritte Mal in Nürnberg schlagen die NSU-Mörder am 9. Juni 2005 zu. Mit fünf Schüssen in den Kopf und den Oberkörper strecken sie Ismail Yasar in seinem Imbiss-Container in der belebten Scharrerstraße im Innenstadtbezirk St. Peter nieder.

Am Zaun, der den kleinen Platz begrenzt, auf dem der „Scharrer-Imbiss“ gestanden hat, hängen zum Gedenken an Ismail Yasar bunte handgemachte Schilder, die an Votivtafeln in Wallfahrtskirchen erinnern. „Irgendwie anders – irgendwie gleich“ ist da zu lesen. Oder: „Setz dich an die Stelle des anderen und den anderen an deine Stelle. Das ist die einfachste Regel für undenkbares Tun.“

Warum wurde Nürnberg dreimal zum Schauplatz von NSU-Morden? Kein Zufall, meint der bayerische SPD-Bundestags-Abgeordnete und gelernte Polizeibeamte Uli Grötsch. Er hält es für erwiesen, dass es „sehr enge Verknüpfungen“ zwischen dem NSU-Kerntrio und der nordbayerischen Neonazi-Szene gab. Die Bundesanwaltschaft verneint – wie bei sämtlichen anderen Verbrechen des NSU – Hilfe durch „ortskundige Dritte“. Damit kann und will sich der zur Tatzeit 15-jährige Sohn von Ismail Yasar einfach nicht abfinden. „Es gibt so viele Döner-Läden in Nürnberg. Wie kommt man ausgerechnet auf meinen Papa?“, sagt er.

Mord an Polizistin Michèle

Warum? Warum gerade meine Michèle? Die immer gleiche Frage treibt seit mehr als zehn Jahren Annette Kiesewetter (55) um, die Mutter der erschossenen Polizistin. Der dem NSU zugerechnete Mord auf der Heilbronner Theresienwiese war der letzte in der Serie der zehn Bluttaten. Der Münchner Prozess hat die Zweifel an der Annahme der Bundesanwaltschaft, dass die 22-jährige Beamtin aus Oberweißbach in Thüringen ein Zufallsopfer ist, nicht ausräumen können. Er bleibt der mysteriöseste der zehn Morde.

Es herrscht Rummelplatz-Atmosphäre auf der riesigen Theresienwiese an jenem frühsommerlichen 25. April 2007, als die Polizeimeisterin während einer Pause durch die heruntergelassene Scheibe ihres Streifenwagens mit einem Schläfenschuss getötet wird. Ihr Kollege wird lebensgefährlich verletzt. Gerade sind die letzten Vorbereitungen für das Mai-Volksfest im Gange.

Jetzt im Herbst ist das riesige Areal ein ganz normaler Parkplatz, verkehrsumtost und wenig anheimelnd. Hundebesitzer drehen ihre Pflichtrunden, Plakate künden vom nächsten Event, dem Weihnachtszirkus.

Am äußersten Rand des Festplatzes erinnert nahe dem Tatort seit 2012 eine schlichte Tafel an Michèle Kiesewetter und an die anderen neun NSU-Opfer. Als hätte es in diesem Fall nicht schon genügend Pannen und Versäumnisse gegeben, wurde der Gedenkort in seiner ursprünglich einfacheren Gestaltung zweimal geschändet. In einem Fall hatten Unbekannte den Betonsockel ausgegraben und in den Neckarkanal geworfen. Der einzige Trost für Annette Kiesewetter ist, dass ihre Tochter in der Heimat begraben ist.

Familie nach Tod von Mehmet Kubasik unter Verdacht

Ortstermin Dortmund. Die vierspurige Mallinckrodtstraße in der Nordstadt ist laut und abweisend. Telefon-Shops, Wettbüros, Friseurläden, kleine Supermärkte. Nachts gibt es hier käuflichen Sex und Drogen. Das ist wohl auch einer der Gründe, weshalb die Polizei die Mörder des Kioskbesitzers Mehmet Kubasik, der am 4. April 2006 in der Mittagszeit in seinem Laden erschossen wird, im Dealer- und Mafia-Milieu vermutet. Lange wird die Familie verdächtigt, selbst in kriminelle Machenschaften verwickelt zu sein. Das übliche verhängnisvolle Ermittlungs-Schema. In Wirklichkeit ist der 50-Jährige, zur Tatzeit längst deutscher Staatsbürger, das achte Opfer des NSU. Auf der Gedenkplatte im Bürgersteig vor seinem früheren Laden heißt es bloß allgemein: „Ermordet durch rechtsextreme Gewalttäter“.

Mehr als elf Jahre sind seit den tödlichen Schüssen in der Mallinckrodtstraße vergangen. „Verdammt lange her, und es passiert so viel in der Welt“, meint der junge Kellner im Eck-Grill. Er dreht das Radio lauter. Gerade läuft der Mark-Forster-Song „Chöre“. „Warum machst du dir 'nen Kopf? Wovor hast du Schiss? Was gibt's da zu grübeln?“

Halit Yozgat war das jüngste Opfer

Nur zwei Tage nach Mehmet Kubasik muss Halit Yozgat sterben, gerade mal 21 Jahre alt. Er ist das letzte NSU-Opfer mit Migrationshintergrund – und das jüngste. Als ihn sein Vater am 6. April 2006 blutüberströmt auf dem Bauch liegend hinter dem Schreibtisch seines kleinen Internet-Cafés im Kasseler Norden findet, kommt jede Hilfe zu spät. Ein Schuss traf ihn über dem rechten Ohr, ein weiterer am Hinterkopf.

Halit Yozgat ist an diesem kühlen Donnerstagnachmittag nur noch im Laden, weil sein Vater, der ihn ablösen will, sich verspätet hat. Die Täter, nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, haben einen Schalldämpfer benutzt. Dennoch ist es merkwürdig, dass die vier Kunden im Hinterzimmer des kleinen Ladens von dem Mord nichts mitbekommen haben wollen. Das gilt besonders für einen Mann, der als Typ Bodybuilder mit Brille beschrieben wird und eine Plastiktüte bei sich trägt. Er wird später als Andreas Temme identifiziert, damals Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Eine Weile gilt er selbst als mordverdächtig. Fest steht, dass er sich unmittelbar vor oder sogar während der Tat in dem „Tele-Internet-Café“ aufgehalten hat.

Das Ladenlokal in der Holländischen Straße gibt es noch. Im vergangenen Jahr hat der Hobby-Imker Victor Hernandez hier Kassels erste Honig-Manufaktur eröffnet. Er wohnte schon in dem Haus, als Halit ermordet wurde. „An einem Ort des Schreckens“, sagt er, „kann etwas schönes Neues entstehen. Bienen sind ja ein Symbol für Leben.“

Der Prozess verzögert sich

Die Plädoyers der Nebenkläger im Münchner NSU-Prozess verzögern sich wegen eines Befangenheitsantrags erneut und beginnen frühestens am 9. November.

Die Bundesanwaltschaft fordert lebenslange Haft für Beate Zschäpe und je zwölf Jahre für E. und Ralf Wohlleben. Die Hauptangeklagte Zschäpe ist nach Überzeugung der Anklage für alle Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ voll verantwortlich. Dazu zählen zehn Morde. Neun der Opfer waren türkisch- oder griechischstämmige Gewerbetreibende, getötet wurde auch die Polizistin Michèle Kiesewetter.

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