Alles erwächst aus dem Gesang

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Philippe Herreweghe widmet sich erneut Bachs Matthäuspassion.

Philippe Herreweghe widmet sich erneut Bachs Matthäuspassion.

"Singen ist das Fundament zurMusik in allen Dingen." Mitdiesem Grundsatz hatGeorg Philipp Telemannetwas ausgesprochen, wasso manchen Instrumentalisten nichtnur zu seiner Zeit überfordert habendürfte. Denn wer nicht wie Bach,Haydn, Mozart oder Brahms selbst denGesang gepflegt hat, der hatte esschon damals schwerer. Ein Musiker,der nicht singen konnte – das war biszum Beginn des 20. Jahrhundertsundenkbar. Dabei ist es für Musikerwie für Dirigenten unerlässlich nachempfindenzu können was Singenbedeutet.

Mit 14 die ersten Chöre dirigiert Dieses besondere Augenmerk legtPhilippe Herreweghe innerhalb derArbeit mit seinen eigenen Ensembles,zu denen auch das Orchestre de laChapelle Royale, das Orchestre desChamps-Élysées und das CollegiumVocale Européenne zählen, aber auchin die Gastdirigate bei anderen renommierteneuropäischen Orchestern.Dass viele Dirigenten sich zwischender Orchester- und Chorarbeit entscheiden,empfindet Herreweghe alsMangel. Dieser Umstand ist wohl derfachlichen Trennung innerhalb derAusbildung zu schulden. Zu Brahms’Zeiten beispielsweise wurde diesbezüglichnicht differenziert. Musik warMusik. Heute stellt sich allein die Frage,welche Affinität zwischen einem Dirigenten und seinem Repertoirebesteht.

Für Herreweghe, der Klavier, Cembalo,Orgel in seiner Heimatstadt Gent studierte,war Gesang seit seiner Kindheitein vertrauter Klang. Auf einer Jesuitenschulegehörte er einem Chor an,bereits mit 14 Jahren begann er selbst,Chöre zu dirigieren. In den späten 60erJahren entdeckte er dann Schallplattenvon Gustav Leonhardt und stelltefest: »So wie der spielt, müssten wireigentlich singen.« So entstand eineeigene Vokalschule, die sukzessiveeinen Idealklang erarbeitete. Seit 30Jahren leitet er nun schon das CollegiumVocale Gent, das produktionsbezogenarbeitet. Die Entscheidung, wermitsingt, hängt davon ab, was gesungenwird. Obwohl es auch einige Allround-Talente gibt, hält es Herreweghefür notwendig, speziell die Sopranstimmenzu wechseln: »Wer gutStrauss und Brahms singen kann, kannin meinen Ohren meist keinen Bachsingen. Das ist wie ein anderes Instrument.«

Besondere Klangkultur Das Problem der Überalterung kenntdas Collegium Vocale nicht. Der Generationswechselliegt in der Natur der Sache, da ein Projektchor durch diepermanenten und zeitintensiven Konzerttourneenautomatisch fluktuiert.Das hat den Vorzug, dass die Besetzungüberwiegend eher jung und »unverbraucht« ist und die Mentalitäteines verhinderten Solisten-Ensembles(dieses betrifft auch den Orchesterapparat)gar nicht erst aufkommenkann. Und dennoch entwickelt sich soetwas wie eine Klangkultur.

Herreweghe ist davon überzeugt, dass man auch sein Collegium Vocale unmittelbar am Klang erkennen kann. Das ist seinerAnsicht nach auf den Effekt der Textarbeitauf die Stimme hin zurückzuführen.Dabei spielt weniger ein bestimmterKlang der Stimmen eine Rolle alsvielmehr die Art und Weise der Interpretation.Herreweghe sieht sich weniger alsBarockspezialist als vielmehr gezwungen,eine Auswahl zu treffen. Was ihninspiriert, ist die Metaphysik derMusik, eine gewisse Spiritualität, vielleichtauch Religiösität. Daher fühlt ersich in den verwandten Welten vonBach, Schütz und Bruckner besondersgut aufgehoben. Hier kann er das tun,was zur Ekstase im wahrsten Sinne desWortes führt – er kann aus sich heraustreten und außer sich sein. Und dieskann bisweilen zum Glück des Augenblicksbeitragen – wie das Singenauch.

Diese intensiven Momente desGlücks durchlebt Philippe Herreweghemit der Matthäuspassion nun schonzum dritten Male (nach den Aufnahmen1984 und 1998 und den entsprechendenKonzerttourneen, ebenfallsmit dem Collegium Vocale). In Anbetrachtdieser Ensembles sowie der solistischenBesetzung dürfte diesenGlücksmomenten eigentlich nichts imWege stehen.

Christoph Guddorf

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