Alt werden in der Villa Anders

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An jedem dritten Sonntag im monat treffen sich die Wohninteressenten zum Frühstück, um sich besser kennenzulernen.

An jedem dritten Sonntag im monat treffen sich die Wohninteressenten zum Frühstück, um sich besser kennenzulernen.

Susi Beckers sitzt am Frühstückstisch, lässig in Jeans und Pulli. Die 78-Jährige kann aber auch glamourös. Zum Beispiel am Christopher Street Day, wenn sie auf den Partywagen steigt und feiert und für Gleichberechtigung die bunte Fahne schwenkt. Sie gehört zu den „Golden Girls“, zum Kölner Netzwerk für Lesben über 50. In der Szene ist sie immer noch ein Single mitten im Leben, den nichts so leicht umhaut. Und dann passierte es doch: Sie stürzte zu Hause, schlug sich das Knie auf und wurde, wie sie sagt, zum ersten Mal nachdenklich: „Wer wird sich eigentlich im Notfall um mich kümmern?“ Und wie?

Also hat sich Susi Beckers jetzt zum Frühstück getroffen mit Schwulen und Lesben, die im kommenden Jahr in die „Villa Anders“ einziehen wollen. Es ist die bundesweit erste generationsübergreifende Hausgemeinschaft für Homosexuelle. Seit vier Jahren engagiert sich der Verein Schwul-Lesbisches Wohnen für die Idee, die das Altern in einer Solidarität von Eingeschworenen garantieren soll: Nicht dass Homosexualität im Alter doch noch in Frage gestellt wird, dazu von fremden Menschen, auf deren Hilfe man angewiesen ist. Versuche andernorts sind bislang gescheitert. Mühsam war es anfangs auch in Köln, einen Bauträger zu finden, dann aber stieß die Gruppe bei der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, der GAG Immobilien AG, auf offene Ohren. Nun entsteht an der Venloer Straße, Höhe Äußere Kanalstraße, ein Gebäudekomplex mit 35 Wohnungen. Offen auch für Transgender, Singles, Paare, Regenbogenfamilien, Junge und Alte. Ein Drittel der Bewohner soll über 60 Jahre alt sein.

Spätes Coming-out

Es ist ein überfälliges Projekt: In Köln leben schätzungsweise 22 000 lesbische und schwule Menschen über sechzig Jahre. „Sie sind in einer Zeit aufgewachsen, als Homosexuelle kriminalisiert wurden“, sagt Stefan Jüngst, Koordinator der schwulen Alternativen in Köln. Der Paragraf 175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, wurde erst 1969 entschärft. Viele mussten sich verstecken - und sie befürchten, angefeindet zu werden, sollten sie eines Tages pflegebedürftig werden. Das so etwas vorkommt, kann Frank Hartung von der Schwulenberatung in Berlin bestätigen. Der Projektleiter vom Netzwerk „anders altern“ besuchte Pflegeheime, „wo die meisten alten Schwulen unerkannt leben“. Wer seine Neigung nicht verheimlicht, muss mindestens mit Unsicherheiten und Unverständnis von Mitbewohnern und vom Personal rechnen. „Es gibt aber auch ganz klare Fälle von Diskriminierungen.“ Homosexuelle müssten weiterhin ihr Leben leben können - ohne Rückzieher.

Männer, die den Kontakt zur Szene verloren oder nie gehabt haben, tun sich noch schwerer, ihren Platz zu finden. „Ausgegrenzt werden Alte schnell, weil Schwule nach wie vor den Jugendkult zelebrieren“, sagt Hartung. Projekte wie „Villa Anders“ jedoch könnten sichere Orte für ein spätes Coming-out sein.

Wichtig ist das Projekt auch für junge Männer wie Reiner Matthée, 37 Jahre alt, aus der sauerländischen Provinz mit einem einzigen gesellschaftlichen Höhepunkt im Jahr: dem Straßenfest - von Szene keine Spur. „Ich will und brauche Anschluss“, sagt er. Er sei auch bereit, mitzugestalten. Das muss er auch. In die „Villa Anders“ darf, „wer sich miteinbringen kann“, sagt Lisa Weiß vom Vorstand des Vereins. „Wir hatten anfangs die Illusion, die Eignung über Fragebögen herauszufinden“, sagt sie. Jetzt trifft man sich an jedem dritten Sonntag im Monat zu einem Kennenlernfrühstück im Rubicon, dem Beratungszentrum für Schwule und Lesben, das dieses Projekt begleitet.

Zum Engagement gehört zudem die finanzielle Beteiligung: Verlangt wird eine einmalige Projekteinlage für einen Gemeinschaftsraum und die Innenhofgestaltung. Sie liegt zwischen 200 und 500 Euro - je nach Einkommen. Eine Mitgliedschaft ist für alle Mieter Pflicht, jährlich fällt ein Betrag von 36 beziehungsweise 60 Euro an. Ein halbes Jahr vor dem Einzug wird ein Vorvertrag unterschrieben. Der Bewerber hat die Wahl zwischen Ein-zimmerapartments sowie Zwei- und Dreiraumwohnungen - jede mit Balkon. Einige Wohnungen sind gefördert.

Geplant ist eine Gemeinschaftswohnung, in der es zwar möglich ist, pflegebedürftige Menschen zu versorgen. Die „Villa Anders“ ist aber keine Pflegeeinrichtung. Susi Becker ist alles andere als abgeneigt, stutzt aber bei dem Hinweis, denn: „Ich bin in einem Alter, in dem ich nur noch einmal umziehen kann.“

 www.ksta.de/wohnenimalter

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