Der Arzt und das Wunder im Hürtgenwald

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Kurz vor seinem Tod besuchte Günter Stüttgen nochmals die Eifel.

Kurz vor seinem Tod besuchte Günter Stüttgen nochmals die Eifel.

Wenige Wochen vor seinem Tod war der legendäre Günter Stüttgen noch einmal am Ort der „Battle of Huertgen Forest“.

Eifel - In den USA ist er ein „hero“, ein Held. In Deutschland ist seine Geschichte weitgehend unbekannt: Der Arzt Günter Stüttgen bewahrte 1944 in der Schlacht im Hürtgenwald Hunderte von verwundeten deutschen und amerikanischen Soldaten vor dem Tod. Jetzt tat der emeritierte Professor an der Berliner Charité selbst seinen letzten Atemzug. Stüttgen starb wenige Wochen, nachdem er im Herbst noch einmal an den Schauplatz jener Schlacht zurückgekehrt war, bei der er sich vor allem bei seinen früheren Feinden Respekt und Hochachtung erwarb.

Mit 84 Jahren hatte der Mediziner noch einmal die Reise von Berlin in die Eifel auf sich genommen. Begleitet wurde er von US-Soldaten, die in Europa stationiert sind. Und von dem Brigadegeneral a.D. Andreas Broicher, dem Vorsitzenden des Zülpicher Geschichtsvereins. Für die Pläne der Bundesvermögensverwaltung, die Reste der Westwall-Höckerlinie samt Bunkern dem Erdboden gleichzumachen, hätte Stüttgen ebenso wenig Verständnis gehabt wie Broicher sowie die „Feinde“ von früher und deren Nachfahren. Broicher organisiert seit rund 20 Jahren Führungen deutscher und amerikanischer Offiziere durch den Hürtgenwald: „Soweit sie noch leben, kommen die amerikanischen Veteranen fast jedes Jahr.“ Auch für die in Europa stationierten US-Soldaten sei ein Besuch im Hürtgenwald ein „Muss“.

Am 7. November 1944 begannen jene dramatischen Tage, aus denen sich die blutigste deutsch-amerikanischen Schlacht des Zweiten Weltkriegs entwickeln sollte: Die alliierte Offensive hauptsächlich amerikanischer Truppen, die von Belgien aus in Richtung Rhein vorstoßen, bricht am nördlichen Teil des „Westwalls“ in sich zusammen. In Schnee und Matsch kommt der Vormarsch zum Erliegen. Gut ausgerüstete deutsche Soldaten liegen in Hunderten von Bunkern und Stellungen und bilden einen 40 Kilometer langen Sperrriegel. Was sich in den darauf folgenden Wochen im Hürtgenwald ereignet, beschreiben Militärhistoriker als „Kampf Mann gegen Mann“. Bis die Alliierten im Februar 1945 doch noch den Durchbruch schaffen, sterben in diesem Abschnitt der Eifel 13 000 Deutsche und 55 000 Amerikaner. Allein in dem als „Allerseelen-Schlacht“ in die Historie eingegangenen Gemetzel vom 2. bis zum 9. November verliert das 28. US-Infanterieregiment 4500 Mann. Deutsche und Amerikaner leiden und sterben dicht nebeneinander. „Für die Amerikaner ist jeder, der das durchgestanden hat, ein Held“, so Broicher. Der Brigadegeneral a.D. ist ein entschiedener Gegner der Pläne der Bundesvermögensverwaltung, die Bunker aus angeblich sicherheitstechnischen Gründen einzureißen. Die Höckerlinie sei schließlich kein Denkmal für das verbrecherische Nazi-Regime. Vielmehr nehme man den früheren Feinden und heutigen Freunden die Gedenkstätte für ihre Väter und Großväter, die bei der Schlacht unter grauenvollen Umständen ihr Leben lassen mussten.

Es wären noch einige hundert mehr gewesen, wenn der damalige Truppenarzt Günter Stüttgen nicht das erreicht hätte, was US-Veteranen später als „Wunder vom Hürtgenwald“ bezeichneten. Der Arzt machte keinerlei Unterschiede zwischen Freund und Feind. Ihm gelang es, mehrstündige Waffenstillstände auszuhandeln.

Mit dem Feind im Bunker

Hunderte von verwundeten und gefangenen Soldaten wurden über die verfeindeten Linien hinweg ausgetauscht, behandelt und verpflegt. Deutsche bargen Amerikaner und trugen sie zurück bis weit in die Etappe. Zeitweise betrieb Stüttgen seinen Sanitätsbunker sogar gemeinsam mit US-Sanitätssoldaten. Was Stüttgen 50 Jahre für sich behielt. Amerikanische Militärhistoriker begannen Anfang der 90er Jahre damit, nach jenem geheimnisvollen „german doctor“ zu suchen. Mit Erfolg: Stüttgen wurde 1996 in einer Feierstunde der Nationalgarde geehrt. In Deutschland nahm davon kaum jemand Notiz. Andreas Broicher schon. Dem Bundeswehr-General a.D. war es vergönnt, dem Mann zweimal zu begegnen, der tiefen Eindruck auf ihn machte: „Stüttgen war ein außergewöhnlicher Mensch.“

Der Arzt sollte es nicht mehr miterleben, dass die Bundesvermögensverwaltung die Bunker flächendeckend sprengt. Denn dadurch würden mit Sicherheit die sterblichen Überreste Hunderter gefallener Soldaten gleich mit in die Luft gejagt. Immer noch werden in der Eifel die Gebeine von Kriegsopfern entdeckt. Broicher. „Eine Nation erkennt man daran, wie sie nach einem verlorenen Krieg mit den Toten umgeht.“

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