Die Kinder waren Feinde, keine Opfer

Lesezeit 6 Minuten
Ein Flüchtlingstrack im Winter 1945 auf dem Weg nach Westen. Manche dieser Tracks endeten im dmals noch besetzten Dänemark.

Ein Flüchtlingstrack im Winter 1945 auf dem Weg nach Westen. Manche dieser Tracks endeten im dmals noch besetzten Dänemark.

Nur Namen auf Grabsteinen sind geblieben. Eine Ärztin wollte mehr wissen und stieß auf umstrittene Geschichte.

Kopenhagen - Schnegel hieß der kleine Junge, so stand es zumindest in seiner Jacke. Seinen Vornamen wusste niemand, oder wann er geboren war. So steht nur „Kind“ auf seinem Grabkreuz und der Todestag. In den letzten Kriegswochen im Frühjahr 1945 muss er nach Dänemark gekommen sein, irgendwie mitgeschleppt im Flüchtlingsstrom, und dann gestorben sein, elternlos, namenlos. Grab und Grabstein teilt er mit anderen, so viel Platz war nicht auf Kopenhagens Friedhof West. Ekkehard, Hannelore, Christa, Hartmut, Dieter: Alle gestorben in jenem Vorsommer, keiner von ihnen ist älter geworden als zwei Jahre.

Es waren Gräber wie dieses, die die dänische Ärztin Kirsten Lylloff nachdenklich machten: Wie kam es, dass da so viele Kinder lagen mit deutschen Namen und fast gleichzeitig verstorben? Vom Schicksal der deutschen Kriegsflüchtlinge wusste sie so viel wie die meisten Dänen: fast gar nichts. Dass zu Kriegsende eine Menge Deutsche hierher kamen, interniert wurden und schließlich wieder zurückgeschickt, dass es den Dänen verboten war, mit ihnen zu „fraternisieren“ und dass Dänemark stolz darauf sein könne, wie gut man den damaligen Feind behandelt habe, wie es bis in die achtziger Jahre hieß.

Doch was war mit den toten Kindern? Die Hobbyhistorikerin begann in Archiven zu stöbern, und was sie entdeckte, empörte sie derart, dass sie Urlaub von ihrer Oberarztstellung nahm, um als Geschichts-Dissertantin „die Geschichte der Flüchtlingskinder umzuschreiben“. Ihr Urteil ist hart. „Ihre Behandlung ist die größte humanitäre Katastrophe der Neuzeit in Dänemark“, sagt die 63-Jährige. 13 495 Flüchtlinge sind laut offiziellen Statistiken allein im Jahr 1945 in Dänemark gestorben, 7000 davon Kinder unter fünf Jahren, kaum einer von 3000 Säuglingen überlebte. Sie starben an Scharlach und Diphtherie, an Magen- und Darmstörungen, Unterernährung und Flüssigkeitsmangel. Sie starben, sagt Kirsten Lylloff, weil sie den dänischen Behörden egal waren, weil dänische Ärzte sie nicht behandelten - weil sie Feinde waren. „Man tat nichts, um die deutschen Flüchtlinge umzubringen, aber man wandte den Blick ab und unterließ es, ihnen zu helfen.“

Lylloff hat von jüngeren Historikern viel Lob für ihre Studien erhalten, von älteren viel Tadel. Das Historische Institut der Universität hat ihre Dissertation „Kind oder Feind“ angenommen, und als die Doktorandin sie öffentlich zu verteidigen hatte, füllte sie den großen Hörsaal bis zum letzten Platz. Denn das Thema löst auch 60 Jahre nach Kriegsende noch heftige Kontroversen aus. „Es ist höchste Zeit, das Bild von unserem Einsatz im Zweiten Weltkrieg zu revidieren und unserer Selbstzufriedenheit einen kritischen Spiegel vorzuhalten“, sagt der Zeitgeschichtler Claus Bryld. „Gar nichts haben wir uns vorzuwerfen“, erwidern jene, die die „verdammten Jahre“, wie die Dänen die Besatzungszeit nennen, miterlebt haben. „Das war kein Kuraufenthalt, aber das sollte es auch nicht sein“, sagt der Archivar Arne Gammelgaard. „Sie bekamen Schutz, ein Dach über dem Kopf, und das Essen war nicht viel schlimmer als das, das die Dänen kriegten.“ Viele der Deutschen seien bis heute dankbar, dass sie damals bleiben durften.

Es war Krieg, und dass Dänemark unvorbereitet vor einer gigantischen Aufgabe stand, als innerhalb weniger Wochen 250 000 Flüchtlinge über die Grenzen und in die Häfen strömten, ist unbestreitbar. Erst hatte die Besatzungsmacht die Verantwortung für die Menschenmassen, dann nach deren Kapitulation waren die Flüchtlinge plötzlich Sache der dänischen Behörden. In den für die Dänen so glücklichen Tage unmittelbar nach dem 5. Mai war die Todesrate in den Internierungslagern am höchsten, weil sich buchstäblich niemand um die Insassen kümmerte. Es war Krieg, „doch selbst 1945 brauchte man Kinder nicht in ungeheizten Baracken unterbringen, auf deren Zementboden das Wasser 10 cm hoch stand“, sagt Kirsten Lylloff. Die dänische Ärztekammer weigerte sich, den Flüchtlingen beizustehen, das Rote Kreuz wandte sich ab. „Das ist ein düsteres Kapitel in unserer Geschichte“, beklagt heute Jörgen Poulsen, der Generalsekretär der Hilfsorganisation.

An mitgebrachten Krankheiten seien die Flüchtlingskinder zugrunde gegangen, opponieren Lylloffs Kritiker, nicht wegen Pflichtversäumnis derer, die ihnen Aufenthalt gewährten. „Babys sterben nicht im November, weil ihre Mutter im April floh, sondern aus Mangel an Fürsorge im November“, erwidert die Ärztin. Die Grabsteine auf dem „Vestre Kirkegård“ erzählen ihre Geschichte: Sieben Kinder in einem Grab, zwischen August und Dezember 1945 geboren, zwischen dem 26.2. und 2.3.1946 gestorben. 10 000 unbegleitete Kinder erreichten mit den Flüchtlingsströmen Dänemark, 2300 von ihnen kamen ums Leben. Die, die überlebten, wurden zwei Jahre lang isoliert. „Die Behörden verfolgten eine beinharte Linie gegenüber diesen Kindern“, sagt Lylloff. „Man hat sie nicht als Opfer gesehen, sondern als Feinde, und daher mussten sie die Strafe für den Hass ertragen, der in Dänemark gegen alles Deutsche bestand.“

Ein Hass, der nach fünf Jahren Besetzung durch das Hitler-Regime verständlich war, meinen viele. „Der Stacheldraht um die Lager diente in erster Linie dazu, die Insassen vor der Wut der Dänen abzuschirmen“, sagt Arne Gammelgaard. Eines der Lager lag direkt am Meer, doch kein einziges Mal durften die Kinder baden gehen - aus Angst vor den Reaktionen der Bevölkerung. Einmal kam eine Hilfssendung Orangen aus Schweden. Tagelang wütete die dänische Presse über den „Skandal“, dass deutsche Kinder die Früchte bekamen, die auch dänische gerne gegessen hätten. Dennoch ist Lylloff überzeugt, dass das Mitleid der Dänen gesiegt hätte, wenn sie von den Schicksalen der Flüchtlinge mehr gewusst hätten. „Das waren Kinder mit tiefem Trauma, die gesehen hatten, wie ihre Eltern erschossen wurden oder nicht ahnten, wo ihre Familie war.“ Doch die Behörden unterbanden jeden Kontakt.

Drei Ziele habe die Flüchtlingsverwaltung verfolgt, sagt die Forscherin: die Flüchtlinge von der Bevölkerung fern zu halten, sie in der öffentlichen Debatte totzuschweigen und zu sichern, dass ihr Lebensstandard deutlich niedriger war als der der Dänen. Etwa 50 Flüchtlingskinder waren vor Kriegsende von dänischen Familien aufgenommen worden. Sie mussten in den Lagern abgeliefert werden. „Da war ein Junge, der nicht wusste, wie er hieß und nur noch Dänisch sprach. Auch er musste weg“, sagt Lylloff. Dass „Hass gegen die Deutschen“ daran schuld war, sieht sie darin bewiesen, dass baltische oder polnische Flüchtlinge, die mit den Deutschen geflohen waren, besser behandelt wurden: Sie bekamen größere Rationen und durften die Lager verlassen. „Als nach der Befreiung 1500 Flüchtlinge in Krankenhäuser kamen, wählte man nicht die kränksten und kleinsten, sondern die, die nicht deutsche Staatsbürger waren.“ So schlimm waren die Zustände in den Lagern, dass der Magistrat in Berlin bat, zuerst jene aus Dänemark heimzuholen, als man sich in Deutschland zur Rücknahme von im Ausland internierten Flüchtlingen imstande sah.

Doch damals waren in Europa 20 Millionen Menschen auf der Flucht, und jene, die es nach Dänemark verschlug, hatten wohl nicht das schlechteste Los gezogen. „Man hat ihnen viel Gutes getan“, behauptet der Widerstandsveteran Jørgen Kieler; „sie waren isoliert, weil man nicht wollte, dass sie sich in Dänemark integrierten.“ Kirsten Lylloff warnt davor, „zu bagatellisieren, was mehr Menschenleben kostete als alle anderen Kriegsereignisse in Dänemark“. Nur wer die Geschichte korrekt beschreibe, könne aus ihr lernen; ethnischer Hass, die bewusste Schlechterbehandlung von Flüchtlingen - „alles wiederholt sich“, sagt die Historikerin.

KStA abonnieren