Die Verurteilung der Sally ClarkEin unwahrscheinlicher Mordverdacht

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Vor einigen Jahren sorgte ihr Fall in England für Schlagzeilen: Aufgrund von Indizien war die Anwältin Sally Clark des Mordes an ihren beiden Kindern für schuldig befunden worden. Doch drei Jahre später, im Berufungsverfahren, sprach man sie frei. Einer der Gründe: Das Urteil der ersten Instanz hatte sich auf einen Rechenfehler gestützt, auf eine falsche Anwendung statistischer Methoden.

Im Dezember 1996 lag der elf Wochen alte Säugling Christopher Clark leblos in seinem Bettchen. Diagnose: plötzlicher Kindstod. Nicht viel später, im November 1997, bekamen die Eltern Sally und Steve Clark wieder ein Baby. Doch auch Harry starb früh, im Alter von acht Wochen. Die Behörden wurden misstrauisch und gingen der Sache nach. Sally Clark geriet unter Mordverdacht und musste vor Gericht. „Die Anklage wurde durch ein statistisches Gutachten erhärtet“, sagt Hans-Hermann Dubben, Statistikexperte am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

„Dieses Gutachten besagte, dass es extrem unwahrscheinlich sei, dass der plötzliche Kindstod in einer Familie gleich zweimal auftritt.“ Als Gerichtsgutachter fungierte Sir Roy Meadow, renommierter Facharzt für Kinderheilkunde. Den Schöffen präsentierte er eine Rechnung, die höchst einleuchtend klang: Aus epidemiologischen Studien schloss der Mediziner, die Wahrscheinlichkeit, dass in einer Nichtraucher-Familie wie den Clarks ein Baby am plötzlichen Kindstod verstirbt, liege bei 1 zu 8500. Ausgehend von dieser Zahl, leitete Meadow dann die Häufigkeit ab, mit der das tragische Ereignis innerhalb einer Familie zweimal auftreten kann. „Dabei hat er sich offenbar gedacht, das funktioniere genauso wie beim Würfeln“, vermutet Dubben. Und zwar beträgt die Wahrscheinlichkeit, beim Würfeln eine Sechs zu werfen, genau ein Sechstel.

Will man wissen, wie wahrscheinlich es ist, nacheinander zwei Sechsen zu werfen, muss man die Einzelwahrscheinlichkeiten einfach miteinander multiplizieren: Ein Sechstel mal ein Sechstel macht ein Sechsunddreißigstel. Auf dieselbe Weise nahm Gutachter Meadow beim Fall Clark die beiden Einzelwahrscheinlichkeiten von 1 zu 8500 miteinander mal und deklarierte das Resultat als Wahrscheinlichkeit, dass der plötzliche Kindstod in einer Familie zufällig zweimal auftritt. Heraus kam eine extrem kleine Zahl - 1 zu 72 Millionen. Nicht zuletzt wegen dieser winzigen Wahrscheinlichkeit verurteilte das Gericht Sally Clark im November 1999 zu lebenslanger Haft. Zu Unrecht, meint Hans-Hermann Dubben. Denn: „Vom Gedankengang hat Meadow einen Fehler gemacht, auf den viele Menschen hereinfallen.“

Die Leute unterschätzen, dass ein vermeintlich unwahrscheinliches Ereignis letztlich doch einzutreten pflegt - wenn es nur genug Gelegenheiten gibt. Ein Beispiel: „Die Wahrscheinlichkeit, dass ich am nächsten Sonnabend im Lotto gewinne, ist ungefähr 1 zu 14 Millionen - eine unglaublich kleine Zahl“, sagt Dubben. „Man kann sich fast drauf verlassen, dass das nicht passiert.“ Dennoch wird fast an jedem Wochenende irgendwo über einen Lotto-Sechser gejubelt. „Das ist kein Wunder, sondern liegt einfach daran, dass viele Millionen Menschen beim Lotto mitspielen.“

Für den Clark-Prozess bedeutet das: Im Laufe der Jahre werden in Europa Abermillionen von Babys geboren. Da treten selbst unwahrscheinliche Ereignisse wie ein zweifacher plötzlicher Kindstod geradezu zwangsläufig auf. Die statistischen Rechenspiele von Sir Meadow waren demnach unbrauchbar, ja unzulässig. Wie deutlich die Fehlleistung war, illustriert ein weiteres Beispiel: Man betritt ein Zimmer, mittendrin steht ein verwegener Kerl mit Cowboyhut und Revolvergurt - offenbar ein Scharfschütze. Und tatsächlich: An die Wand ist eine Zielscheibe gemalt, ziemlich genau in der Mitte prangen zwei Einschusslöcher. Dubben: „Da könnte man erst mal denken: Na, ein toller Schütze!“

Das Problem: Eigentlich weiß man gar nicht, wie die Treffer zustande gekommen sind. Vielleicht hat der vermeintliche Meisterschütze den ersten Schuss irgendwo in die Wand gefeuert und erst nachträglich die Zielscheibe um das Einschussloch gezeichnet. Dann erst hat er zum zweiten Mal geschossen und ins Schwarze getroffen. „In diesem Fall hat er nicht zweimal getroffen, sondern nur einmal“, erklärt Dubben. „Also kein so erstaunliches Kunststück.“ Und es könnte noch drastischer gewesen sein: Womöglich hatte der Cowboy wahllos durch die Gegend geballert und ein paar Hundert Schüsse an die Wand gesetzt. Dann schaute er nach, an welcher Stelle zwei Einschusslöcher dicht beieinander liegen, malte die Zielscheibe drum herum und dichtete die übrigen Löcher mit Spachtelmasse und weißer Farbe wieder ab. In diesem Fall würde hinter den vermeintlichen Kunstschüssen nichts als der pure Zufall stecken.

Genauso kann es, meint Hans-Hermann Dubben, auch bei der angeblichen Kindsmörderin Sally Clark gewesen sein: „Irgendwann hat sich dann die Königliche Gesellschaft für Statistik in England eingemischt und klargestellt, dass die Rechnung von Sir Meadow eine Milchmädchenrechnung war.“ Eine Richtigstellung, die dazu beitrug, dass Sally Clark im Januar 2003 im Berufungsverfahren freigesprochen wurde.

Doch den Kummer, den ihr der Tod der Kinder und die juristische Auseinandersetzung bereitet hatte, hat sie nicht verwunden. Vier Jahre später fand man sie tot in ihrer Wohnung - gestorben an einer akuten Alkoholvergiftung. Sie habe sich, so ihre Familie, von dem Justizirrtum nie erholt.

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Die Serie ist eine Kooperation mit dem Deutschlandfunk. Die Beiträge laufen jeweils dienstags um 16.35 Uhr. Der Deutschlandfunk ist im Raum Köln auf UKW 91,3 und 89,1 MHz sowie im Digitalradio zu empfangen.

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