Durchs wilde Paschtunistan

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Bauern in einem Flusstal bei Faisabad in Afghanistan.

Bauern in einem Flusstal bei Faisabad in Afghanistan.

Wir mögen „edle Wilde“. Schon Karl May reiste durchs „wilde Kurdistan“, und der Folklore-Indianer Winnetou ist der Häuptling aller Klassen. Mit der Entführung Deutscher in Afghanistan und durch die explosive Lage in Pakistan kehrt nun ein anderer, wilder Menschenschlag in unser Bewusstsein zurück: die Paschtunen. Im Gegensatz zu Karl-May-Figuren sind sie echt. Und seit Alexander dem Großen haben zahlreiche Imperien dieser Tatsache ein „leider“ hinzugeseufzt.

Denn die Paschtunen entscheiden über strategisch wichtige Punkten wie den Khaiberpass auf dem Hindukusch. Wer die kriegerischen Stämme besiegen oder unter eine staatliche Ordnung zwingen wollte, holte sich oft eine blutige Nase - wie Briten und Sowjets. Dass es nun die Amerikaner und die Nato versuchen, nennt der Rostocker Politikwissenschaftler Jakob Rösel „unendliche Blödheit“. Er glaubt nicht, dass westliche Hightech-Armeen oder Pakistans Militär die Paschtunen-Stämme in Zeiten „asymmetrischer Kriege“ besiegen können.

Rösel gilt als Experte für die Paschtunen. Er kann ihre Kultur, ihre Geschichte, ihre Mentalität erklären. Dabei klingt er nicht, als seien sie ihm sympathisch geworden. „Die Engländer haben die Paschtunen für die letzten Barbaren gehalten“, sagt Rösel. Erst als die Briten die Stämme etwas eingegliedert hatten änderte sich das Bild. „Sie wurden Karl-May-mäßig idealisiert nach dem Motto: Ein britischer Offizier sieht einem Paschtunen ins Auge und erkennt einen Gentleman.“ Einen Gentleman jedoch, mit dem man ungern im Dunkeln allein ist.

Diese zweifelhafte Faszination verdanken jene Paschtunen, die in mehr als 50 verschiedenen Stämmen in den Bergen Afghanistans und Pakistans leben, vor allem dem archaischen Verhaltenskodex, den sie bis heute einhalten. Zum „Paschtunwali“ gehört extreme Gastfreundschaft, die so weit geht, dass ein Gast Immunität genießt - und sei er ein gesuchter Krimineller wie Terrorfürst Osama Bin Laden. „Jedes Dorf hat extra eine Art Gästehaus“, sagt Rösel. Das weniger freundliche Gegenstück des Kodex' ist Badal - Blutrache. Sie ist Pflicht über Generationen hinweg. Im endlosen Gewaltkreislauf um verlorene und wiedergewonnene Ehre sind Stämme und Sippen miteinander verfeindet. Die Ehre des Mannes wird durch die Frau verkörpert - und kann von ihr „durch ein angenommenes Fehlverhalten“ in Frage gestellt werden, so der Bonner Entwicklungsforscher Conrad Schetter. Das ist eine feine Umschreibung für patriarchale Unterdrückung. Das ungeschriebene Brauchtums- und Regelwerk stammt aus vorislamischer Zeit. Aber es passt zum Islam, seit er über die Berge kam und die anderen Religionen in der Region verdrängte. Die Taliban, fast ausschließlich paschtunische Gotteskrieger, sind Ausdruck dieser Symbiose. Rösel nennt sie eine „religiös gewendete Form des Traums von einem großen Paschtunistan“. Einem Land also, das die künstliche Trennung der paschtunischen Siedlungs- und Weidegebiete in eine afghanische und eine pakistanische Seite wieder aufhebt, die die Briten mit der „Durand-Linie“ einst vollzogen.

Die wenigsten der bis zu 30 Millionen Paschtunen sind Taliban, nicht alle leben in Dörfern oder verdingen sich als Waffenhändler oder Warlord. Die Schaltstellen in Pakistans Militär und auch in der afghanischen Regierung werden seit Generationen von Paschtunen besetzt. Das Ziel: So bekämpfen die Stämme die Zentralregierung in der Regel nicht, dafür werden sie nicht der Zentralgewalt unterworfen.

Die Stämme verwalten sich in ihren Provinzen mittels regulierter Anarchie selbst. Entscheidungen werden in Stammesversammlungen (Jirga) im Konsens gefällt. Wer einer Entscheidung nicht zustimmt, muss sich nicht an sie halten. Solange er die Regeln des Paschtunwali einhält, ist jeder männliche Paschtune frei. Nur gegen einen gemeinsamen äußeren Feind schließt man sich zusammen - oder gegen einen Stamm, der innerhalb der Paschtunen-Gesellschaft zu mächtig zu werden droht. „Jeder Stamm ist mit dem Nachbarstamm verfeindet. Wer jetzt von außen kommt, muss immer einen Stamm nach dem anderen besiegen - es können keine Verträge über die ganze Region geschlossen werden“, sagt Schetter.

Ein Paschtunen-Clan, der einen Deutschen entführt, handelt auf eigene Rechnung. Vielleicht reicht er die Geisel an die Taliban weiter, vielleicht auch nicht. Insofern nennt Rösel es „Glück“, wenn die Entführer der deutschen Bauingenieure in Afghanistan nur geschäftstüchtige Stammeskrieger sein sollten. Die Taliban sind jünger als die paschtunischen Sippenführer, sie sind radikalere Moslems und längst nicht in allen Paschtunen-Clans beliebt. Die Stämme sind für niemanden ein verlässlicher Verbündeter, nicht einmal für die Gotteskrieger. Einen Paschtunen-Winnetou, der edel, gut und treu zu Nato-Bleichgesichtern ist - Karl May müsste ihn wohl erfinden.

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