Ein Bild, ein Kind, eine Geschichte

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Tsvi Nussbau zeigt das bekannte Foto, auf dem er von den Nazis in Warschau verhaftet wird.

Tsvi Nussbau zeigt das bekannte Foto, auf dem er von den Nazis in Warschau verhaftet wird.

Tsvi Nussbaum lebt heute als Rentner in New York und erzählt von seinem dramatischen Leben.

New York - Er wartet bereits seit einer Stunde. Tsvi Nussbaum sitzt im Büro des Holocaust Museums von Spring Valley in der Nähe von New York - ich in der Bibliothek nebenan. Als das Missverständnis bemerkt wird, kann er sich einen Seitenhieb nicht verkneifen. „Ich dachte, Deutsche sind immer pünktlich.“ Nussbaums Gang ist schleppend, das Aufstehen bereitet ihm Schmerzen. Der ehemalige Hals-Nasen-Ohren-Arzt ist im 70. Lebensjahr.

Aus einer Plastiktüte kramt Nussbaum ein Foto hervor. Darauf hebt ein kleiner Junge die Hände, im Hintergrund steht ein SS-Mann, der sein Maschinengewehr im Anschlag hält. Der Junge wirkt hilflos und verwirrt, er schaut an der Kamera des Fotografen vorbei, den Blick ängstlich auf ein unsichtbares Ziel gerichtet.

Kaum ein anderes Bild hat die Unmenschlichkeit des NS-Regimes so deutlich gemacht. Es ging um die Welt, wurde millionenfach gedruckt und hängt heute in vielen Museen der Welt, im Anne-Frank-Haus in Amsterdam ebenso wie im Holocaust-Museum in Washington. „Es ist eines der unauslöschlichen Bilder der Geschichte“, schrieb die „New York Times“. Tsvi Nussbaum sagt leise: „Ich wäre glücklicher, wenn es das Foto nicht geben würde. Und ich wünschte, ich wäre nicht der Junge auf dem Bild.“

Tsvis Eltern, Chana und Yosef, waren 1935 aus dem südpolnischen Städtchen Sandomierz nach Palästina ausgewandert. Kurz darauf kam Tsvi zur Welt - mit einem von der britischen Mandatsmacht in Palästina ausgestellten Pass. Doch die Lebensbedingungen für die junge Familie erwiesen sich als zu hart. Schon ein Jahr später kehrte die Familie nach Sandomierz zurück. Ein verhängnisvoller Schritt. Wenige Tage nach dem Überfall auf Polen im September 1939 erreichte die deutsche Wehrmacht den Ort.

Tsvi Nussbaum weiß nicht, wie seine Eltern umgekommen sind. Auf einer Messingtafel im Holocaust-Museum von Spring Valley wird ihr Name genannt und als Todesjahr 1942 angegeben. Für den kleinen Tsvi waren sie einfach nur verschwunden: „Eine Freundin meiner Eltern nahm mich und meinen Bruder Ilan eines Tages zu sich, später kam eine andere Freundin und holte mich zu meinem Onkel und meiner Tante nach Warschau.“ Seinen Bruder hat er nie wiedergesehen. In Warschau versteckten sie sich außerhalb des Ghettos in einer Wohnung im von Polen bewohnten Teil der Stadt.

Fast ein Jahr blieben sie unerkannt, „dann hörten wir von der Möglichkeit, dass Juden mit Auslandspässen nach Palästina ausreisen könnten“. Sammelpunkt war das Hotel Polski. „Ein paar Tage haben wir im Hotel mit Dutzenden anderer Juden gewartet. Dann kam die SS und befahl uns, vor das Hotel zu kommen. Es war der Moment, als das Foto entstand.“

Tsvi Nussbaum war damals knapp acht Jahre alt. „Ein Soldat befahl mir die Hände zu heben.“ SS-Männer verlasen Namen von einer Liste. Die Namen seines Onkels und seiner Tante standen darauf. Beide wurden auf einen Lastwagen verfrachtet. Doch Tsvis Name fehlte. „Weil wir aber den gleichen Nachnamen hatten, sprang mein Onkel vom Lastwagen wieder herunter, lief auf mich zu, umarmte mich und flüsterte: »Küss mich!« Er gab sich als mein Vater aus - ich durfte mit auf den Lkw.“

Doch die Reise ging nicht ins Gelobte Land. Die Fahrt mit einem Güterzug endete nach zwei Tagen im Konzentrationslager Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide. „Als Juden mit einem Auslandspass wurden wir etwas besser behandelt als die anderen Häftlinge“, erzählt Nussbaum, „denn aufgrund unserer Pässe bestand immer noch die Möglichkeit eines Austauschs gegen deutsche Kriegsgefangene. Man brachte uns in einer Baracke gegenüber der Küche. Wir hausten mit 225 Juden auf engstem Raum, bekamen aber keine Nummer in unsere Arme tätowiert und trugen weiterhin unsere normale Kleidung.“

Tsvi Nussbaum, seine Tante und sein Onkel überlebten das KZ. Nach ihrer Befreiung im April 1945 wanderten sie nach Palästina aus. Tsvi lebte in einem Kibbuz, dachte an Selbstmord und will heute darüber nicht mehr reden. „Er war depressiv“, sagt seine Frau Beverly. „Er hatte auf einer Postkarte an seinen Onkel angekündigt, seinen Eltern und seinem Bruder in den Tod folgen zu wollen.“ Wieder rettet ihn der Onkel und nimmt ihn mit, diesmal nach Amerika. Als sie 1953 in New York eintreffen, ist Tsvi knapp 18 Jahre alt. Er macht seinen Schulabschluss und beginnt mit einem Medizinstudium.

Er ist schon promovierter Hals-Nasen-Ohren-Arzt, als er irgendwann in den 80er Jahren zum ersten Mal das Bild sieht - sein Bild. „Ich weiß nur noch, wie ich dachte, der sieht ja aus wie du.“ Nur hätte der Hinweis auf das Warschauer Ghetto nicht gepasst. „Dort bin ich nie gewesen.“ Sein Freund Marc Berkowitz forschte nach und war sich schließlich sicher: Der Junge auf dem Bild ist Tsvi Nussbaum. Das Foto ist am 13. Juli 1943 vor dem Hotel Polski entstanden zu einem Zeitpunkt, als das Warschauer Ghetto von der SS schon aufgelöst worden war. „Ich trage auf dem Bild - genau wie die anderen Juden auch - keinen Davidstern“, erklärt er, als müsse er noch immer beweisen, tatsächlich dieser Junge zu sein. „Den Wintermantel hatte ich an, weil man nur mitnehmen durfte, was man am Körper trug.“

In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen diente dieses wie andere Fotos als Beweismittel. Auch die Identität des SS-Mannes auf dem Bild konnte geklärt werden: Josef Bloesche, SS-Unterscharführer, verantwortlich für den Mord an mehreren hundert Juden. Bloesche war wegen seiner Brutalität unter den Juden im Ghetto besonders gefürchtet. Bloesche lebte nach Ende des Kriegs unbehelligt als Bergmann unter seinem richtigen Namen in Urbach in der ehemaligen DDR. Erst 1967, nachdem das Hamburger Landgericht die DDR auf den ehemaligen SS-Unterscharführer aufmerksam machte, wurde er verhaftet und zwei Jahre später vom Bezirksgericht in Erfurt wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und durch Genickschuss hingerichtet. Es war das letzte in Deutschland vollstreckte Todesurteil.

1982 veröffentlichte die kleine Zeitung „The Jewish Week“ aus New York eine Titelgeschichte über den „Jungen aus dem Warschauer Ghetto“. Kurz darauf machte die „New York Times“ Tsvi Nussbaums Geschichte publik. Plötzlich stand Nussbaum im Rampenlicht. Zweifler an der Echtheit seiner Geschichte meldeten sich zu Wort, andere machten ihm zum Vorwurf, sich wichtig zu machen. Lucjan Dobroszycki, Spezialist für die Geschichte osteuropäischer Juden, schrieb in einem Leserbrief: Das Bild sei „zu heilig, um Leute damit machen zu lassen, was sie wollen“. Nussbaum aber hatte diese Kontroverse „nicht gewollt und nicht erwartet. Ich fühlte mich schuldig, den Holocaust überlebt zu haben.“

Selbst enge Freunde waren damals schockiert. „Alle hatten doch bis dahin gedacht, dieser Junge vom Foto sei im KZ ermordet worden, und nun stand ich da und lebte. Wissen Sie, was das für mich bedeutete?“ Tsvi Nussbaum kramt in seiner Plastiktüte und legt zum Vergleich ein Foto vom Sommer 1945 neben das berühmte Bild. Der zehnjährige Tsvi sieht dem Jungen aus Warschau zum Verwechseln ähnlich.

Vor sieben Jahren hat er mit seiner Frau und seinen vier Töchtern Sandomierz in Polen besucht. Sein Elternhaus in der Kosciuszkistraße 1 stand noch. „Es war der traurigste Tag in meinem Leben, obwohl ich keine Erinnerungen mehr an dieses Haus habe“, sagt er. Auf einem Foto, das er damals machte, sieht man ein heruntergekommenes zweistöckiges Gebäude, die gelbe Farbe verblichen, der Balkon verrostet. Tsvi Nussbaum klappt den Deckel des Fotoalbums mit den Reisebildern zu und steckt es zurück in seine Plastiktüte. Auf dem Flug nach Polen landete die Maschine in Frankfurt zwischen. Tsvi Nussbaum weigerte sich, das Flugzeug zu verlassen. Deutschen Boden will er nie mehr betreten.

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