Ein Viertel wird Geschichte

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Alt: Auch diese Hauserzeile der Siedlung Neurath ist in den vergangen Tagen des Abrissbirne zum Opfer gefallen. Die Mieter waren beriets vor Monaten ausgezogen.

Alt: Auch diese Hauserzeile der Siedlung Neurath ist in den vergangen Tagen des Abrissbirne zum Opfer gefallen. Die Mieter waren beriets vor Monaten ausgezogen.

Seit Jahren baut die GAG die bekannte Wohnsiedlung nahe der Berliner Straße um. Mit dem Abbruch der letzten Häuserblocks verliert das Ortsbild von Höhenhaus ein Charakteristikum.

Höhenhaus - Sang- und klanglos geht in diesen Tagen die Geschichte einer historischen Kölner Vorstadt-Siedlung zu Ende, der Siedlung Neurath in Höhenhaus. Die Bagger reißen derzeit die letzten vier Blöcke des mit 16 Häuserzeilen bestückten Areals ab, das als letztes großes Vorhaben des sozialen Wohnungsbaus der Weimarer Republik errichtet worden ist. Die Mustersiedlung galt damals als vorbildhaft: mit Toiletten im Innern der Zwei- und Dreiraumwohnungen, weiten Wiesenflächen und Grabegrundstücken zwischen den Häuserblocks, einem siedlungseigenen Kindergarten und einer Schrebergartenanlage um die Siedlung herum. Zum Denkmal aber hat das Amt für Denkmalschutz die 16 Häuserzeilen mit den nach Orten im Harz benannten kleinen Fußwegen nie erklärt. Und so war es denn ein Leichtes für den Eigentümer GAG, im Zuge geplanter Sanierungen und Wohnraumverdichtungen Ende der 80er den Abriss der alten Häuser zu beschließen und durch Neubauten zu ersetzen.

Allerdings machte eine engagierte Mieterinitiative diesen Plänen erst einmal einen Strich durch die Rechnung. Sie schlug vor, die Siedlung in ihrer baulichen Gestalt erhalten, die bestehende Sozialstruktur zu bewahren und die Häuser „sanft“ zu sanieren. Die Auseinandersetzung währte über Jahre. Bei mehreren Unterschriftenaktionen sprachen sich 80 Prozent der Mieter gegen einen Abriss aus - aus Sorge vor höheren Mieten und aus Angst vor dem Verlust der vertrauten Alltäglichkeit. Der Verweis des gewählten Mieterrates auf die sanften Sanierungen von Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet wurde von Politik, Stadtverwaltung und Wohnbaugesellschaft gleichermaßen ignoriert. Auch ein Gutachten des Rheinischen Amtes für Denkmalpflege blieb unberücksichtigt. Das hatte vorgeschlagen, die Siedlung aufgrund „der Vorwegnahme der in den 50er Jahren stilprägenden Zeilenbauweise“ unter Denkmalschutz zu stellen. „Licht, Luft und Bäumcher“ hieß damals, als die Siedlung Neurath zwischen 1930 und 1931 errichtet wurde, dieses klare, großzügige Zeilenbaukonzept mit viel Raum zwischen den Häuserzeilen. Nur wenige der seinerzeit gepflanzten Bäume, die bis in die 90er Jahre die spitzgiebeligen Häuser überragten, sind den umfangreichen Baumfällungen im Zuge der Neubaumaßnahmen seit Mitte der 80er Jahre nicht zum Opfer gefallen. Für sämtliche Baumaßnahmen mussten die Mieter komplett aus ihren Wohnungen ausziehen.

Indem das geschlossene Siedlungsensemble zerstört wurde und die über sechs Jahrzehnte gewachsene Sozialstruktur auseinander fiel, brach sehr bald auch der Widerstand der Mieter zusammen. In der Folge wurden weitere Häuserblöcke aufgestockt beziehungsweise - weil sich die Kosten dieses Verfahrens als zu hoch erwiesen hatten - die alten Häuserzeilen durch um eineinhalb Stockwerke höhere Neubauten komplett ersetzt. So entstand ein kurioses Sammelsurium unterschiedlicher Gebäudestile: viergeschossig die acht Häuserzeilen auf der einen Seite, dreigeschossig auf der anderen. Immerhin hatte die Mieterinitiative erreicht, dass die Häuserzeilen nahe der Autobahn wegen der hohen Lärmbelastung nicht aufgestockt werden durften.

Mit den letzten Häuserzeilen, die derzeit niedergerissen werden, verschwindet eine historische Arbeitersiedlung, die dem Vorort Höhenhaus sieben Jahrzehnte lang neben den vielen Einfamilienhäusern einen besonderen Charakter verlieh. In der Siedlung Neurath gab es Zeichen des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Von hier kam der Nachwuchs für den lange Zeit erfolgreichen Fußballverein TUS Höhenhaus. Und hier wurde über Jahrzehnte durch die Überschaubarkeit der Hausgrößen eine multikulturelle Arbeiter- und Einfache-Leute-Kultur gepflegt, die sich grundlegend von den häufig zitierten Siedlungen des Sozialen Wohnungsbaus in anderen Stadtteilen unterschied.

„Neurath war immer etwas Besonderes“, sagt Heinz-Gerd Giesel, der in der Siedlung geboren wurde und seit einigen Monaten mit seiner fünfköpfigen Familie in einem der Neubauten wohnt. „Die Wohnung mit Heizung, Bad und doppelverglasten Fenstern ist zwar moderner, aber ansonsten ist es nicht mehr so schön“, so sein erstes Fazit. Was er meint, ist die neue Anonymität, die in die Häuser Einzug gehalten hat, und die Unruhe und die Enge im Außenbereich. Giesel ist sich sicher, dass sich eine über sieben Jahrzehnte gewachsene Sozialstruktur und ein gemeinsames Ortsbewusstsein in der heutigen Architektur nicht mehr im früheren Maße einstellen werden: „Das hätte man bewahren sollen.“ Für ihn ist mit dem nunmehr vollständigen Verschwinden der alten Siedlung nicht nur ein unwiederbringlicher Verlust an geschichtlicher Substanz verbunden: Die Neubauten haben ihn von einem Teil seiner Kindheit abgeschnitten.

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