Endlich mit Jungs über andere Jungs reden

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Nermin (links) und jan haben die erste Hürde genommen. Sie sind zum Neueinsteigertag ins „Anyway” gekommen, der zweimal im Monat stattfindet.

Nermin (links) und jan haben die erste Hürde genommen. Sie sind zum Neueinsteigertag ins „Anyway” gekommen, der zweimal im Monat stattfindet.

Aus den Lautsprechern hinter der Theke tönt Madonnas „Like a Virgin“, das heute noch genauso gut klingt wie in den Achtzigern. Für 2,50 Euro werden Currywurst mit Country-Potatoes oder ein vegetarisches „Gemüsegebräu“ angeboten. Es gibt einen Tischkicker und einen Cafébereich mit roten Sesseln und schwarzen Sofas. Auf kleinen Tischchen brennen Teelichter in Gläsern. Einige Jugendliche blättern in der Zeitschrift „Bravo“, ohne die man wohl nach wie vor nicht erwachsen werden kann. Andere diskutieren über Klausuren und Lehrer. Wie das in einem Jugendzentrum eben so ist.

Vergleicht man dieses mit anderen Einrichtungen in Köln, gehört es auf jeden Fall zu den wenigen, die freundlich und einladend wirken. Dass an diesem Donnerstagabend nur Jungs an der Theke stehen, ist nicht außergewöhnlich. „Zwei Drittel Jungs, ein Drittel Mädels - da unterscheiden wir uns nicht von anderen Einrichtungen“, sagt Sven Norenkemper, einer der Mitarbeiter. Und doch ist das „Anyway“ einzigartig in Köln. Die Jungs, die an der Theke diskutieren, haben „früher im Otto-Versandkatalog der Mutter lieber die Seiten mit der Herrenunterwäsche durchgeblättert als sich die Bikini-Mädchen etwas weiter vorne reinzuziehen“, wie einer später sagt. Im „Anyway“ treffen sich Jugendliche zwischen zwölf und 25 Jahren, die schwul, lesbisch oder bisexuell sind. 1997 hat das Jugendzentrum als Erstes in Europa seine Pforten geöffnet. Mittlerweile besuchen es mehr als 1400 Jungen und Mädchen pro Jahr. Viele, die zum ersten Mal hierher kommen, gestehen sich damit „offiziell“ ein, dass sie sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen. Deshalb fällt dieser Schritt oft besonders schwer.

Die vier Jungs, die sich in Kapuzen-Pullovern und mit zerwuschelten Haaren im Cafébereich herumdrücken, haben diese erste Hürde genommen: Sie sind zum Neueinsteigertag gekommen, der zweimal im Monat stattfindet. Sven Norenkemper zeigt Dominik (22), Jan (17), Nermin (22) und Michael (19) zuerst das Jugendzentrum und stellt ihnen die einzelnen Projekte und Teams vor. Das „Anyway“ hat eine eigene Fußballmannschaft, ein Theken-Team und einige Leute, die regelmäßig Partys organisieren. Nach den Formalia setzt sich der Pädagoge mit den „Neuen“ zusammen und moderiert die kleine Kennenlern-Runde, in der oft auch schon Probleme wie die Angst vor dem Coming-out zur Sprache kommen. Je nachdem, wie mutig die Jungs sind.

Der 16-jährige Frederik sitzt an der Theke, während die Vorstellungsrunde in der ersten Etage stattfindet. „Oh je, ich kann mich noch an meinen Neueinsteigertag erinnern“, sagt er und nimmt einen großen Schluck aus seiner Colaflasche. „Ich hatte mich endlich getraut, stand mit klopfendem Herzen vor der Tür und dachte nur: Hoffentlich sieht mich keiner. Dann merkte ich, dass Feiertag ist. Als ich zum zweiten Mal hier war, war es noch schlimmer, weil klar war, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt.“

In Sachen Coming-out war Frederik zu diesem Zeitpunkt im vorigen Jahr trotzdem schon geübt. Seine Eltern wussten Bescheid, die Lehrerin und sein bester Freund. Auf dessen Frage „Bist du schwul oder was?“, die alle Jungs sich auf dem Pausenhof irgendwann anhören müssen und die im Allgemeinen als Beleidigung empfunden wird und mindestens eine mittelschwere Schlägerei nach sich zieht, antwortete Frederik einfach mit „Ja“. Damit verwirrte er auch seine Vertrauenslehrerin, die kurz schluckte und dann sagte: „Das ändert sich bestimmt noch.“ Es änderte sich nicht. Frederik schmolz dahin, wenn der nette Typ aus der Parallelklasse an ihm vorbeiging. „Ich habe ihm sogar einen langen Liebesbrief geschrieben. Richtig gut war der“, sagt er. „Aber der Arsch hat ihn einfach in den Papierkorb geschmissen. Wenigstens hat er es für sich behalten.“

Frederik rückt seine Brille zurecht, setzt sich aufrecht hin und verrät: „Ich habe aber neulich über das Schülerverzeichnis im Internet einen ganz Netten kennengelernt. Mal sehen - bald wollen wir uns treffen.“ Die Reaktion seiner Lehrerin, die Frederik immer für eine tolerante Frau hielt, weil sie an einer integrativen Schule unterrichtet, bringt den Jugendlichen immer noch aus der Fassung.

Die Mitarbeiter des „Anyway“ kennen solche Geschichten zur Genüge. „Die Jungs und Mädchen haben heute leider noch mit den gleichen Vorurteilen zu kämpfen wie vor 30 Jahren“, sagt Thomas Haas. „Deshalb leiden viele homosexuelle Jugendliche unter Depressionen. Die Selbstmordrate bei jungen Lesben und Schwulen ist viermal so hoch wie bei gleichaltrigen Heterosexuellen“, weiß der Sozialpädagoge. Die vier Neueinsteiger, die eben mit verschränkten Armen die Treppen hochgegangen sind, kommen wieder herunter. Sie plappern durcheinander, lachen und werden künftig wohl „endlich mit Jungs über andere Jungs reden können“, so Norenkemper.

Jetzt können sie auch offen über ihre Gefühle sprechen, die sie an diesem Nachmittag vor dem Betreten des „Anyway“ hatten. Michael gibt sich ganz lässig und sagt in rheinischem Sing-Sang: „Ach, isch hatte keine Bedenken.“ Trotzdem gibt er zu, einige Tage vorher schon einmal mit dem Auto ums Jugendzentrum herumgekurvt zu sein. „Seitdem dachte isch eigentlich nur noch: Oh Gott, hoffentlich kriegste hier 'nen Parkplatz.“ Jan hatte ganz andere Gedanken: „Ich dachte, die sehen hier alle total gut aus. Wie Fotomodelle“, sagt er. „Doch als ich die Bahnkarte nach Köln gekauft hatte, gab es irgendwie auch kein Zurück mehr. Jetzt bin ich sehr erleichtert.“ Jan brachte mit seiner Entscheidung gegen das weibliche Geschlecht gleich mehrere Frauen zum Weinen. „Zuerst meine Mutter, aber die hat sich inzwischen damit abgefunden. Aber die Mädchen in meiner Klasse haben richtig sauer reagiert“, erinnert er sich. Der blonde Gymnasiast, der locker als Mitglied einer Boy-Band durchgehen könnte, musste sich gegen Droh-SMS und Beschimpfungen der enttäuschten Mitschülerinnen wehren. „Das kannst du doch nicht machen“, sagte sein Freund fassungslos zu ihm. „Du bist doch voll der Mädchenschwarm.“ Mädchenschwarm hin oder her: Jan kann es nicht ändern. Und seit er zu der Einsicht gelangt ist, dass „nichts falsch mit mir ist“, will er es auch nicht mehr ändern.

 www.anyway-koeln.de

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