Ex-Leichtathletin„Was pfeift die sich denn da rein?“

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Lepping im Jahr 1986. (Bild: Archiv)

Lepping im Jahr 1986. (Bild: Archiv)

Frau Lepping, können Sie verstehen, warum das Ende September veröffentlichte Ergebnis des wissenschaftlichen Forschungsprojekts, mit dessen Hilfe die Dopingkultur in West-Deutschland aufgearbeitet wird, für derart großes Erstaunen gesorgt hat? Handelt es sich dabei nicht um längst bekanntes Wissen?

CLAUDIA LEPPING: Ja, denn dass auch im Westen Deutschlands massiv und beachtlich und flächendeckend gedopt wurde, kam schon mit der Aufarbeitung des Dopingsystems Deutschland-Ost zutage, also gleich nach der Wende. Spätestens seit 2000 liegen die Fakten auf dem Tisch.

Ihre eigenen Erlebnisse wollen Sie nicht länger für sich behalten . . .

LEPPING: . . . der Anlass war ein Satz im Geständnis des Radprofis Erik Zabel: "Ich habe gedopt, weil es ging." Meine Botschaft ist: Es geht auch, Nein zu sagen.

Sie waren dabei, als Mitte der 1980er Jahre bei der SC Eintracht Hamm ein Leichtathletik-Sprintzentrum aufgebaut wurde, das sogenannte Hammer Modell. Was haben Sie dort erlebt?

LEPPING: Der Hammer Sprint-Trainer Heinz-Jochen Spilker hat mich bei der EM 1986 in Stuttgart mit einem Satz gelockt: "Komm zu uns, dann zeigen wir dir, warum die DDR-Mädels so schnell sind." Ich nahm das Angebot an, denn ich dachte, er spricht von besonderen Trainingsmethoden. Ich war 18, startete für den LC Marl. Ich wollte mehr aus mir herausholen, und zwar ohne Doping - ich habe niemals gedopt - merkte aber, dass Spilker nicht nur Trainingsmethoden meinte.

Sondern?

LEPPING: Viele Mädels, die Spilker in Hamm schnell gemacht hat, konnten deshalb mit der DDR-Combo mithalten, weil sie ebenso anabole Steroide schluckten wie die Kolleginnen im Osten. Es waren zwei Mittel: Anavar und Stromba, das auch als Stanozolol bekannt ist. Das wiederum ist das anabole Steroid, auf das Ben Johnson 1988 in Seoul positiv getestet wurde. Spilker hatte viele Kontakte, unter anderem zu dem Doper-Zirkel um Johnson und auch zu dem der DDR-Läuferin Marita Koch, die den Weltrekord über 400 Meter hält. Das war so eine West-Ost-Drehscheibe des Dopings.

Was haben Sie selbst gesehen?

LEPPING: Ich war mit der Sprinterin Silke Knoll in einem Trainingslager in einem Zimmer. Sie nutzte einen zweiten Kulturbeutel, voll mit Medikamenten, und ich dachte: "Was pfeift die sich denn da rein?" Ich habe mir die Namen der Medikamente notiert und die Liste einer Ärztin gezeigt. Sie sagte: "Da sind Doping-Mittel drunter." Mit furchtbaren Nebenwirkungen.

Haben Sie Veränderungen bei den Athletinnen festgestellt?

LEPPING: Bei drei Sprinterinnen war eine Vermännlichung unübersehbar. Ich habe die Mädels gefragt: Kennt ihr die Nebenwirkungen? Keine Antwort. Sie schotteten sich ab. Ich hatte an den Konsens geglaubt, dass Doping des Teufels ist. Der Leichtathletik-Verband reagierte übrigens nicht auf meinen Hinweis. Aber ich sah noch etwas: Blankorezepte.

Unterschrieben von?

LEPPING: Professor Armin Klümper aus Freiburg, er war jahrelang Verbandsarzt des Deutschen Leichtathletik-Verbandes.

Klümper war als Sportmediziner unter anderem auch für den Bund Deutscher Radfahrer zuständig. Haben Ihre Kolleginnen Klümper regelmäßig in Freiburg aufgesucht?

LEPPING: Ja, klar. Das nannte sich dann Kreuzweg nach Freiburg, weil sie über drei Autobahnkreuze von Hamm nach Freiburg fahren mussten. Von diesem Kreuzweg kamen sie dann mit Medikamenten oder mit Blanko-Rezepten ausgestattet zurück. Die haben sie in einer Apotheke eingelöst.

Um welche Athletinnen handelt es sich?

LEPPING: Silke Knoll, Mechthild Kluth, Andrea Hannemann, Helga Arendt und Gisela Kinzel. Die Fälle sind dokumentiert. Ich nenne die Namen nicht, um sie anzuklagen, das steht mir überhaupt nicht zu. Sie hatten aber alle die Gelegenheit, zur Aufklärung beizutragen, und zu erklären, dass sie auch Opfer eines Systems sind, und dass Trainer wie Spilker die wahren Täter sind. Das haben sie nicht getan. Es geht um die Wahrheit, und darum zu verhindern, dass junge Athleten in dieselbe Situation geraten.

Gab es noch mehr Besonderheiten?

LEPPING: Die Mädels erzählten, dass sie von Spilker darüber informiert wurden, wann Kontrolleure kamen. Von der Ankündigung bis zum Erscheinen konnte man locker mal eine Woche überbrücken, so dass die dann abgesetzten Mittel nicht mehr nachweisbar waren.

Welche Erfolge haben die Hammer Sprinterinnen erreicht?

LEPPING: Es gilt als bewiesen, dass 1988 durch das Anabolika-Doping der 4x200-Meter-Hallenweltrekord der Hammer Frauen zustande gekommen ist. 1989 ist Helga Arendt Weltmeisterin über 400 Meter in der Halle geworden. Danach wurde sie sehr krank. Leberschaden, Anabolika können solche Nebenwirkungen haben.

Wie ist Spilker, der ja wegen seiner Erfolge auch Sprint-Bundestrainer war, mit Ihnen umgegangen, als Sie ihm sagten, dass Sie nicht dopen?

LEPPING: Er hat nie Druck auf mich ausgeübt. Das lief dann so bis 1989, als ich mit 20 Jahren wegen einer Rückenverletzung nicht mehr richtig trainieren konnte.

Gab es eine gerichtliche Aufarbeitung?

LEPPING: Ja. Der Auslöser war die Aussage von Angella Taylor-Issajenko, einer Teamkollegin von Ben Johnson, im Frühjahr 1989. Im staatlichen Ben-Johnson-Untersuchungsausschuss sagte sie, dass Spilker ihr gegenüber die Vergabe von Dopingmitteln erwähnt habe. Der Heidelberger Professor Werner Franke stellte später Strafanzeige gegen Spilker, es kam zum Prozess, Spilker wurde 1994 vom Hammer Amtsgericht wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz verurteilt. Er musste 12 000 Mark zahlen. Okay. Ich rege mich aber enorm darüber auf, dass jemand mit dieser Vergangenheit im deutschen Sport noch so eine Nummer ist.

Welche Funktion hat er denn noch?

LEPPING: Er ist stellvertretender Vorsitzender des Landessportbundes Thüringen. Warum kann so jemand noch aktiv Einfluss nehmen auf den Sport? Der Landessportbund sollte sich erklären, warum er mit jemandem zusammenarbeitet, der diesen Doping-Hintergrund hat. Ich möchte von der thüringischen Landesregierung wissen, warum sie den Eindruck in Kauf nimmt, der dadurch entsteht. Dass Politik und Sport so nachsichtig mit jemandem umgehen, der vermännlichendes Doping an jungen Frauen vorgenommen hat.

Sie wollen nun Ihre Erlebnisse an junge Sportler weitergeben. Was genau planen Sie?

LEPPING: Ich versuche, junge Leute zwischen 15 und 17 Jahren darauf vorzubereiten, dass da mal jemand kommen könnte und sagt: "Willst du besser werden? Ich kenne einen Arzt, der zieht das durch. Das machen doch alle." Ich will dabei helfen, Nein zu sagen.

Wie soll das funktionieren?

LEPPING: Doping-Trainer nutzen ja die Unerfahrenheit junger Sportler aus. Mein Ziel ist eine Graswurzel-Kampagne von unten nach oben, in der Athleten sich zum Widerstand verbinden und Alarm schlagen können, wenn der Druck beginnt. Ich möchte die neuen Medien nutzen. Wenn diese jungen Leute zusammenhalten, sind sie eine Macht. Was soll ihnen passieren? Suspendierung? Na, das wäre mal ein schöner Skandal: Athlet redet, wird rausgeworfen und twittert es in die Welt. Nein, da haben Doping-Trainer keine Chance mehr.

Das Gespräch führte Stephan Klemm

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