InterviewZum Flanieren ins Parkhaus

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Herr Weisshaar, können Sie mir als Spaziergangsforscher sagen, warum alle Kölner am Rhein entlang spazieren müssen?

Bertram Weisshaar Es ist doch erfreulich, wenn so auffällig viele Menschen spazieren gehen. Ich selber mag es, wenn so viele Menschen unterwegs sind und die Straßen von ihren Tritten erfüllt werden. Das ergibt einen sehr schönen Klang.

Den hört man am Rhein natürlich weniger deutlich.

Weisshaar Den Rhein suchen die meisten wegen der Weite und Offenheit, die man ansonsten in Köln natürlich nicht hat. Die Rheinpromenade ist zwar Innenstadt, aber der Rhein markiert einen Übergang zur Landschaft. Die aufzusuchen ist das Urmotiv des bürgerlichen Spaziergangs. Heraus aus der Stadt, hinein in die Natur. Das stammt aus der Zeit Ende des 18. Jahrhunderts als der Spaziergang etabliert wurde und dieser Archetyp hat immer noch seinen Reiz. Das Problem ist nur, dass dies durch die Verkehrs- und Stadtentwicklung nicht mehr überall so einfach möglich ist. Es gibt keine eindeutige Grenze von Stadt zu Land mehr. Flüsse allerdings suggerieren sie zumindest, auch wenn sie wie in Köln, durch die Stadt fließen. Hinzu kommt, dass, gemessen an unserem Lebenshorizont, ein Fluss etwas Urzeitliches hat und uns in eine besondere Stimmung versetzt.

Sie plädieren dennoch dafür, sich auch mal die Rückseiten einer Stadt anzusehen. Was meinen Sie damit?

Weisshaar Sagen wir mal so. Die Rheinpromenade ist das kleine Einmaleins des Spaziergangs. Wer in der Rechenkunst fortgeschritten ist, für den erweisen sich die Rückseiten der Stadt als spannend. Damit meine ich den Weg hinter den Fußgängerzonen oder in, um und auf die Parkhäuser. Gutes Beispiel in Köln ist die Gegend in der Cäcilienstraße, Kreuzung Hohe Straße, wo die Initiative „Liebe deine Stadt“ vor Jahren auf das Parkhaus von Ernst Nolte aus dem Jahr 1957 mit Hotel hingewiesen hat. Sehen sie sich da mal um. Es lohnt sich.

Das muss man natürlich wissen. Braucht es denn unbedingt Sehenswürdigkeiten?

Weisshaar Das ist eine Frage der Wahrnehmung. Man kann auch einfach nach Würdigkeiten suchen. Ich bin vor einigen Jahren von der Universität für angewandte Kunst in Wien eingeladen worden, im Fachbereich Landschafts-Design. Damals sind wir einfach mit dem Bus zur Endhaltestelle gefahren. Da befindet sich die Müllverbrennungsanlage Wiens.

Und?

Weisshaar Etwas weiter steht die Kläranlage und ein Hof, wo alle abgeschleppten Autos geparkt werden.

Das kann schön sein?

Weisshaar Nicht unbedingt schön. Aber interessant. Man entdeckt auf dem Weg Zusammenhänge der eigenen Kultur. Übrigens unternehmen jede Woche viele Wiener genau denselben Weg – eben dann, wenn ihr Auto abgeschleppt wurde. Zum Beispiel fanden wir dort auch viele Tomatengewächshäuser, die mit der Abwärme der Müllverbrennungsanlage geheizt werden. Die Tomaten haben keinerlei Bodenkontakt und werden dann auf dem Wiener Frischmarkt als regionales Produkt verkauft.

Der Spaziergang als Bildungsreise?

Weisshaar Ja, man braucht natürlich ein gewisses Maß an Neugierde und auch Freude an der Ironie der Situation, die man vorfindet.

Sie sind auch mal vier Wochen lang von Leipzig nach Köln gegangen. An sämtlichen Kleingärten vorbei. Auch das gilt noch als Spaziergang?

Weisshaar Ein Spaziergang kann zehn Minuten dauern. Ich kenne aber auch einen Berliner, der es sich verbietet, vor Ablauf von 24 Stunden nach Hause zu kommen. Nach zwölf Stunden, erzählt er, passiert etwas in seinem Körper und Bewusstsein.

Ein Spaziergänger-High?

Weisshaar Vielleicht. Eine wirkliche Definition gibt es in der Tat nicht. Eher eine Typologie der Spaziergänger selbst. Der Romantiker, der Vergeistigte, der Routinier. Einer, der sich treiben lässt. Ein anderer, der das ungestörte Gespräch im Spaziergang sucht.

Und worauf konzentriert sich die Spaziergangswissenschaft?

Weisshaar Sie wurde in den 1980er Jahren im Fachbereich Architektur und Landschaftsplanung eingeführt. In verschiedenen Stadtentwicklungsprozessen wird der Spaziergang als Instrument genutzt. Sprich, man bringt die Diskussionen häufiger an den konkreten Ort als früher.

Können Sie ein aktuelles Beispiel nennen?

Weisshaar In Leipzig läuft derzeit ein Prozess zu einem Rahmenplan „Verkehr und öffentlicher Raum“. In dem Beteiligungsverfahren agiere ich als Vertreter vom Fachverband Fußverkehr. Manche sind überrascht, wenn sie das hören. Aber der Verband ist nichts anderes als eine Lobby, so wie der Automobil- oder Fahrradclub. Wir versuchen uns politisch zu organisieren und unsere Perspektive in die demokratischen Prozesse der Stadtentwicklung einzubringen. Das heißt eben auch, den Raum, um den es geht, aus der Perspektive der Fußgänger wahrzunehmen.

Wenn Sie für Köln einen Spaziergang entwerfen würden, unter welchem Titel stünde er?

Weisshaar In Köln ist das einfach. Wie wird man das Erbe der autogerechten Stadt los? Die Verkehrssituation zu entspannen, scheint mir hier das drängendste Problem. Die Mehrheit der Bevölkerung ist meistens mit einem Verkehrsmittel unterwegs und begreift die Stadt aus ihrem Fortbewegungsvehikel heraus. Ich würde also versuchen, die Auto-, Fahrrad- und Bahnfahrer zu einem Perspektivwechsel zu bringen und sie zu Fuß durch die verkehrsreichen Viertel führen.

Das Gespräch führte Ina Henrichs

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