Heftiger Durchzug im Elfenbeinturm

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Der „Fall Schön“ wirft ein bedenkliches Licht auf den gesamten aktuellen Wissenschaftsbetrieb.

Nun legt sich die Aufregung wieder, die wissenschaftlichen Nobelpreise sind vergeben. Jedes Jahr im Herbst feiern Forscher im Namen Alfred Nobels sich selbst und ihre hehren Ideale. Doch mancherorts herrscht Katzenjammer. „Er ist jung und auf dem besten Wege, eines Tages Nobelpreisträger zu werden“: So hieß es noch Ende 2001, als dem umjubelten deutschen Physiker Jan Hendrik Schön (32) in Berlin der Otto-Klung-Weberbank-Preis verliehen wurde, einer der begehrtesten und angesehensten Wissenschaftspreise in Deutschland.

„Welcome to the club“ begrüßte ihn Horst Störmer, deutscher Physik-Nobelpreisträger 1998 und Otto-Klung-Preisträger 1985. Schöns „sensationelle“ Forschungsergebnisse wiesen, so Störmer in seiner Laudatio, den Weg in eine Billig- und Einwegelektronik auf der Grundlage organischer Materialien. Die Träume von den Plastikchips sind vorerst zerplatzt, der Shooting-Star befindet sich im freien Fall. Auch seinen schönen Preis ist er wieder los, nachdem ihm eine Prüfungskommission „wissenschaftliches Fehlverhalten“ nachwies.

Während seiner Zeit bei den amerikanischen Bell Laboratories hat Schön zwischen 1998 und 2001 in mindestens 16 von 24 Verdachtsfällen Forschungsergebnisse frisiert, manipuliert, zum Teil wohl auch frei erfunden. Der Vorstand der Otto-Klung-Stiftung, die Geschäftsführer der Fördergesellschaft der Weberbank und die Auswahlkommission für Physik haben daraufhin einstimmig beschlossen, ihm den Preis wieder zu entziehen.

Der „Fall Schön“ wird abgewickelt, der Kündigung durch die Firma Lucent Technologies, des Mutterkonzerns der Bell Labs, dürfte die Ausweisung aus den Vereinigten Staaten folgen, als Wissenschaftler ist er mausetot. Aber hinter den Kulissen rumort und brodelt es. Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes Gut. Und die Öffentlichkeit reagiert zu Recht empfindlich, wenn Forscher diese Freiheit missbrauchen, die sich die Gesellschaft immerhin einiges kosten lässt.

Es handle sich um einen bedauerlichen Einzelfall, versichert man allenthalben. Daraus spricht auch das begreifliche Bedürfnis, davon abzulenken, dass sich hier viele kluge Köpfe mit Ruhm nicht bekleckert haben. Warum brachte erst ein anonymer Hinweis den Stein ins Rollen? Selbst in führenden Fachblättern wie „Science“ und „Nature“ hat Schön völlig unterschiedliche Experimente mit identischen Diagrammen unterlegt. Warum merkte das nicht einmal sein ehemaliger Chef Bertram Batlogg, einer der angesehensten Physiker unserer Zeit?

Von der Idylle des Elfenbeinturms, in dem einsame Gelehrte ihren Nobelpreisträumen nachhängen, hat sich die Forschung meilenweit entfernt. Wer sich heute einen Namen machen will, muss publizieren - egal wie. Das Gewicht einer neuen Erkenntnis bemisst sich daran, wie häufig Kollegen sie erwähnen. Auch Schön kannte den computerisierten „Zitierindex“, der über Erfolg und Tempo einer Karriere entscheidet. Er hat innerhalb von drei Jahren mehr als neunzig Artikel in Fachzeitschriften untergebracht.

„Das Wettrennen verwildert die Sitten, nur der Allererste erntet Ruhm.“ Nicht ohne Wehmut erinnert sich Hans-Joachim Queisser (71), emeritierter Direktor des Stuttgarter Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung anlässlich dieses Täuschungsskandals an die fernen Zeiten, in denen „die Vorfahren der heutigen Physiker, Chemiker und Ingenieure noch sorgfältige, ein wenig umständliche Publikationen“ schrieben und der Idee nachhingen, „dass die skeptischen Kollegen in der Lage sein mussten, die eigenen Resultate zu bestätigen“. Reproduzierbarkeit ist in den Naturwissenschaften noch immer ein hohes Gut. Aber das heißt nicht unbedingt, dass man sie pflegt.

„Noch vor einigen Jahren gab man immerhin an, welche Geräte man benutzte“, klagt Queisser. Heute werde dies „als trivial angesehen und schlicht weggelassen“. Originaldaten blieben verborgen, Tabellen und Diagramme würden oft „nur korrigierte Werte“ zeigen, weil man „die störenden Einflüsse der Geräte herausrechnen muss, um an die wahren Effekte heranzukommen“.

Ist die Grenze zwischen Täuschung und anerkannter Manipulation fließender als es der naive Verstand glaubt? Und Schön nicht nur der Übeltäter, sondern auch der ertappte Sündenbock? Zuletzt verkündete er im Durchschnitt jede Woche einen neuen Durchbruch. Profitiert hat davon nicht zuletzt der „Zitierindex“ von Bertram Batlogg, der meist als Co-Autor zeichnete. Er weist jede Mitschuld von sich - und offenbart damit nur, dass er sich um seinen Mitarbeiter nicht sonderlich gekümmert haben kann.

„Wenn etwas Interessantes passiert, dann bin ich sofort persönlich im Labor“, hat der Nobelpreisträger Klaus von Klitzing vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung dazu leicht verwundert angemerkt. Über Batloggs Mitverantwortung ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

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