HistorieMythos Nordwand

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Szene aus dem Film "Nordwand" (Bild: Constantin Verleih)

Szene aus dem Film "Nordwand" (Bild: Constantin Verleih)

Es gibt Unglücke, die werden nie vergessen. Weil sie besonders grausam waren. Vermeidbar gewesen wären. Oder durch eine Reihe von tragischen Zufällen zustande kamen. Sie werden Stoff von Geschichten, die man sich früher schaudernd am Kamin erzählte und heute auf der Leinwand miterleben kann. Der Untergang der Titanic ist so ein Mythos. Die missglückte Erstdurchsteigung der Eiger Nordwand ein anderer.

Eiger – schon der Name des 3970 Meter hohen Berges klingt für manche Ohren bedrohlich. „Der Legende nach kommt der Name von Hoger, einem Ungeheuer, das im Berg sitzt und Menschen verschlingt“, sagt Rainer Rettner, der jetzt ein Buch über die Triumphe und Tragödien am Eiger in den 30er Jahren geschrieben hat. „Daran glaube ich allerdings nicht.“ Der schmale, dunkelhaarige Mann sagt das mit einem Lächeln. Er sitzt auf der sonnigen Terrasse des Hotels „Weisse Spinne“ in Grindelwald im Berner Oberland. In seinem Rücken ragt, steil und riesenhaft, die 1800 Meter hohe Wand auf. Sie liegt im Schatten. Ab und zu deutet er nach oben, zum Berg, und erklärt die einzelnen Routen und Stationen. Die „Weisse Spinne“ etwa, von der auch der Name des Hotels stammt, weil es den Blick auf eine besonders gefährliche vereiste Stelle hoch oben am Berg freigibt, die so aussieht wie ein Insekt mit langen Beinen. Er erzählt vom „Todesbiwak“ und vom „Götterquergang“. Namen, die für Katastrophen und Triumphe stehen, die sich vor Jahrzehnten bei Durchsteigungsversuchen in Tausenden Meter Höhe abgespielt haben. „Der Berg ist wie ein alpines Museum“, sagt Rettner. „Jedes Stück Wand erzählt eine Geschichte.“

„Da oben hing der Toni“

Das Unglück, das die Menschen in Grindelwald bis heute am meisten berührt, ist das Schicksal von Toni Kurz. Johann Kaufmann, 35 Jahre alt, ist bereits in dritter Generation Bergführer, und mit der Geschichte von Kurz aufgewachsen. „Da oben hing der Toni“, sagt Johann und deutet mit ausgestrecktem Arm in die Luft. Er balanciert in 2800 Meter Höhe auf schmaler Kante am Rande eines Stollenlochs, mitten in der Eiger Nordwand. Von hier aus wurde vor 72 Jahren von vier Bergführern die vergebliche Rettung des erst 23-Jährigen unternommen. Da es wegen des Überhangs und der Vereisung der Wand unmöglich war, zu ihm hinaufzuklettern, drehte er mit den Zähnen und einer Hand – der andere Arm war mittlerweile erfroren – ein Hanfseil auf und ließ die Schnur zu den Bergführern hinunter. Diese verknoteten zwei Seile miteinander, nur eines wäre zu kurz gewesen. Nach stundenlanger Arbeit begann er endlich sein Abseilmanöver – bis es vier Meter über den Bergführern schließlich an der Verknüpfungsstelle hakte: Toni konnte den Knoten nicht durch den Abseilkarabiner drücken. Er stöhnte noch mehrmals kurz auf – und hing tot im Seil.

Dieser Berg braucht Respekt

Bergführer Johann Kaufmann kennt die tragische Geschichte. Er schweigt einen Moment in Erinnerung daran und legt eine Hand auf den kalten, unnachgiebigen Fels, an dem lange, scharfe Eiszapfen hängen. Er schaut nach oben auf die steile, überhängende Wand, dann nach unten in den Abgrund. Er sagt: „Wenn du hier abstürzt, zerteilt es dich komplett.“ Vielleicht denkt er in diesem Moment auch an seine drei Kollegen, die er im Sommer beim Unglück am Montblanc verlor. Die Gefahr klettert eben immer mit. „Als Bergführer geht es stets um Leben und Tod. Es gehört schon zum Beruf, dass du weißt, dass es dich treffen kann.“ Hat er davor Angst? „ Nein, Angst habe ich nicht“, sagt der durchtrainierte Mann, der beim Klettern in der Eiswand die Steigeisen so leichtfüßig setzt, als tanze er Seil. „Angst lähmt. Aber Respekt. Respekt vor dem Berg. Den darf man auch nie verlieren.“

Vielleicht ist es auch dieser Respekt, der die Grindelwalder jahrelang davon abhielt, die Nordwand zu durchsteigen. Das war verpönt. Auch weil es ja die Bergführer aus dem eigenen Ort sind, die ihr Leben riskieren müssen, um die Touristen aus der Wand zu retten. Sie wurden jahrelang als Hasardeure betrachtet, als Menschen, die Gott versuchen und den Tod verachten. „Außerdem kennen die Grindelwalder die Tragödien, die sich hier abgespielt haben, alle ganz genau. Sie wissen, wie die Leute ausgesehen haben, die man rausgeholt hat“, sagt Kaufmann, der die Wand vielleicht deshalb bis heute noch nicht durchstiegen hat. Obwohl auch er mit ganzer Seele auf Berge klettert. „Für mich sind die Alpen die letzte Wildnis Europas. Ich liebe die Natur und die körperliche Anstrengung.“ Anreize, die wohl auch die beiden Gebirgsjäger Toni Kurz und Andreas Hinterstoisser im Juli 1936 von Berchtesgaden nach Grindelwald radeln ließen. „Hinzu kam aber auch, dass sie nach sozialer Anerkennung suchten“, sagt Rainer Rettner. „ Sie hatten beide nicht viel Geld.“ Dass es die olympische Goldmedaille war, die ihnen – wie im Film – von den Nazis bei Erfolg in Aussicht gestellt worden war, glaubt er hingegen nicht. „Das halte ich für Spekulation.“

Seilschaften, die sich heute an der Wand versuchen, klettern unweigerlich auf den Spuren ihrer Vorgänger. Ein alter Haken, ein Seilrest, hin und wieder auch ein Stück Knochen: „Bis heute liegen dort noch Menschen, die nie geborgen werden konnten“, sagt Rettner. Genau diese Katastrophen sind es, die den Mythos als gefährliche, todbringende Wand begründet haben und so manchen Bergsteiger schon deshalb faszinieren. „Das liegt vor allem daran, was in den 30er Jahren hier passiert ist“, erklärt Rettner, der für sein Buch unzählige Quellen gesichtet hat. „Neun Menschen starben in den Jahren 1935 bis 1938 bei Durchsteigungsversuchen, bevor es endlich geklappt hat.“ Hinzu kommt, dass es allesamt Tragödien waren, die sich meist tagelang hinzogen, während man über den Verbleib der Menschen rätselte.

Die Tücken der Wand

An die 1000-mal ist die Nordwand seit 1938 erfolgreich durchstiegen worden, 65 Menschen kamen bei Versuchen ums Leben. Die meis¬ten, wenn sie auf der anderen, einfacheren Seite wieder hinunterklettern: Dann ist die Konzentration einfach weg, sagen die Bergführer. Schwierig ist die Wand immer noch, die meisten Kletterer benötigen bis heute mehrere Tage. Auch wenn sich viele Bedingungen verbessert haben. Wie zum Beispiel die Ausrüstung: Statt Hanfseilen werden Nylonseile benutzt, statt einfachen Lodensachen trägt man heute Goretex. Extrembergsteiger Ueli Steck schaffte die Wand im Februar in der Rekordzeit von zwei Stunden und 47 Minuten – ganz ohne Sicherung. Alle paar Wochen holt der Grindelwalder Rettungschef Kurt Amacher Bergsteiger aus der Wand, die es nicht schaffen, die sich überschätzt haben. Sie melden sich dann per Handy und bitten um Hilfe. Am liebsten würde er die Kletterer vorher prüfen, die durch die Wand wollen. Denn viele seien sich der Gefahren nicht wirklich bewusst. „Man muss einfach mehrere Dinge beachten, um das Risiko kalkulierbar zu halten“, sagt er. „Man muss eine wahnsinnig gute Kondition haben. Auf das Wetter achten. Und die Tücken der Wand gut kennen.“ Im Hochsommer um die Nachmittagszeit zu klettern sei allein deshalb schon unverantwortlich, weil dann die Steinschlaggefahr besonders hoch sei. Das habe auch mit der globalen Erwärmung zu tun. „Die Eisfelder schrumpfen immer mehr“, sagt Amacher, der im August einen Tschechen, der sich mittags bei ihm gemeldet hatte, die ganze Nacht in der Wand sitzen lassen musste, bis er mit dem Hubschrauber kam. „Er war einfach nur müde – also war klar, dass es am nächsten Morgen noch reichen würde, ihn zu holen.“ Die Gefahr sei für den Hubschrauber mittags im Hochsommer einfach zu groß: Ein kleiner Stein im Rotor genüge – und er stürze ab. Der beste Zeitpunkt für eine Durchsteigung sei deshalb der Winter, weil dann die Steinschlaggefahr am geringsten sei.

Mittlerweile kann kein Augenzeuge mehr erzählen, wie es damals genau war. Der letzte der Bergführer, die bei der Rettungsaktion von Toni Kurz dabei waren, starb vor einigen Jahren. Nur wenige Verwandte der verunglückten Bergsteiger leben noch. Christine Haberer aus Tuttlingen ist die Nichte von Anderl Hinterstoisser. „Er wollte diesen Berg unbedingt machen, genauso wie sein Freund Toni“, sagt die 61-Jährige. Sie selbst hat den Onkel nie kennengelernt, aber ihren ältesten Sohn nach ihm benannt. Vielleicht war es ihr deshalb auch so suspekt, als er wie sein verunglückter Onkel zu den Gebirgsjägern wollte. „Das haben wir verboten. Man muss das Schicksal nicht herausfordern.“

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