In Kierdorf kann man baden gehen

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Rein ins kühle Nass: Die Kierdorfer schwören auf ihr Freibad, das zweite in Erftstadt neben dem in Lechenich.

Rein ins kühle Nass: Die Kierdorfer schwören auf ihr Freibad, das zweite in Erftstadt neben dem in Lechenich.

Erftstadt-Kierdorf - Hippies aus der Eifel zog es dorthin, die Rocker „The Lords“ standen da auf der Bühne, und Joints sollen auch rumgereicht worden sein. „Legendär“, „toll“ sei die Großraumdisco „Kakadu“ gewesen, schwärmen die Kierdorfer. „Da gastierten richtige Berühmtheiten“, sagt Karin Bandur, Verkäuferin in der Bäckerei Höhne an der Friedrich-Ebert-Straße. Sie gibt eine Kostprobe, geht in die Knie, greift in die Saiten einer Luftgitarre und singt „Ich sprenge alle Ketten“. Heute ist von der Großraumdisco „Kakadu“ nur noch der rostbraune Treppenaufgang zu sehen und ein aufgemalter Kakadu auf der Wand gegenüber. „Das letzte Relikt“, sagt Jutta Klan, Kneipenbesitzerin der Martinus-Schänke, der Gaststätte vor dem ehemaligen „Kakadu“. Die Disco gibt es nicht mehr. Mit ihr verschwanden der Rummel in der Nacht und die Discogänger aus Köln.

Heute ist Kierdorf vielmehr ein beliebter Wohnort für viele ehemalige Kölner. Das Dorf war nach dem Zweiten Weltkrieg die erste Gemeinde des damaligen Kreises Euskirchen, die sich dem Zuzug durch preiswerte Grundstücke öffnete. „Kierdorf wird immer größer, und viele Fremde ziehen hierher“, sagt Klan.

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Heute: Erftstadt-Kierdorf

Es gibt immer mehr neue Häuser, aber immer weniger Geschäfte. „Hier kannste keine Wurst mehr kaufen“, klagt Karl-Heinz Dirheimer, der an der Theke der „Martinusschänke“ sitzt. Zwar gebe es einen Getränkeshop, einen Imbiss, ein Beerdigungsinstitut, eine Apotheke, sogar eine Möbelboutique, zwei Banken und immerhin vier Gaststätten. Aber kein Lebensmittelgeschäft. Die Neubürger störe das nicht, glaubt Dirheimer. „Die wollen ihre Ruhe haben.“ Er hingegen wäre froh, wenn sich mehr Gewerbe in Kierdorf ansiedeln würde. Kierdorf entwickele sich langsam zu einer Schlafstadt, befürchtet auch die Wirtin. Neubürger kämen selten in die Kneipe. Fast alle Gäste seien Stammkunden. „Ich kenne die Cholesterinwerte von Herrn Dirheimer genauso gut wie er selbst“, witzelt die Wirtin.

Treffpunkt Freibad

Ein Geräuschcocktail aus Kindergeschrei, Plantschen und Bolzen vom Freibad dringt in die gepflegten Vorgärten der Einfamilienhäuser und stillen Seitenstraßen. Das Thermometer zeigt zwischen 30 und 33 Grad an. Zeit für eine Abkühlung, scheinen viele Kierdorfer zu denken - im Freibad. „Hier kann man auch alleine hingehen. Man trifft immer jemanden“, sagt Michaela Katzer, die ihr Sonnenbad genießt. „Jeder kennt jeden“, stimmt ihre Freundin Silvia Rabuazzo zu. Für beide kommt gar kein anderer Wohnort in Frage als Kierdorf. Liblar und Lechenich, wo Rabuazzo schon gewohnt hat, können dem Ort offenbar keine Konkurrenz machen. „Ich bin immer wieder zurückgekommen.“

Die etwa zehnköpfige Gruppe schwört auf das Freibad mit den Schatten spendenden Bäumen und auf die Ruhe im Ort. „So ruhig sei es nun auch wieder nicht“, relativiert Annette Schiffer, die alles weiß, wie die anderen sagen: Sie ist die Postbotin im Ort. „Die Vereine versuchen immer wieder, etwas auf die Beine zu stellen und so das Dorf zusammenzuhalten.“ So furchtbar viele Gäste seien bei Veranstaltungen nicht gekommen. Es gibt neun Vereine im dem Ort mit rund 3200 Einwohner.

Streit um Tankstelle

Privatinitiativen wie der „Ruude Club“ bereichern zusätzlich das Angebot. Der Club sei aus einer Bierlaune heraus entstanden, erklärt Sandra Getto, die im Freibad ihr eigenes Handtuch verlassen hat und eine Stippvisite bei der Gruppe einlegt. Genauer gesagt aus einer Schnapslaune: „Wir haben immer roten Genever getrunken.“ Und damit war der Name des Clubs schnell gefunden: Ruude für roter (Genever). Der Club kümmert sich um den Rosenmontagszug und um das Aufstellen des Maibaums.

Mit wie viel Privatinitiative sich die Kierdorfer ins Zeug legen, zeigt auch der „Gesprächskreis Kierdorf“ unter Leitung von Peter Kievernagel. Zurzeit bereitet der Kreis die Geschichte des früheren Ortes Zieselsmaar auf. Am Ende soll eine Kierdorfer Chronik herauskommen.

Streitpunkt im Ort war die Ansiedlung eines Discounters oder einer Tankstelle an der Louisenstraße. Weder das eine noch das andere haben die Anwohner der Straße akzeptiert. Die Kierdorfer seien alle dafür, „nur die Anwohner der Louisenstraße sind dagegen“, sagt auch Dagmar Peters, die zur Gruppe hinzu stößt.

Vor wenigen Wochen machte der Geschäftsführer der Tankstelle einen erneuten Vorstoß und verkündete, auf dem Grundstück weiterhin eine Tankstelle eröffnen zu wollen. Dafür will er sich nun Ehepaar Philipp und Christine Heift, Inhaber der Martinus-Apotheke, ins Boot holen und stellte ihnen in Aussicht, sich dort niederlassen zu können, da es in ihrer Apotheke im Ort inzwischen zu eng wird. Ob Tankstelle und Apotheke tatsächlich dort aufmachen, bleibt fraglich. Zunächst müssen sich die Geschäftsführer einigen.

Auch ohne Aldi oder Tankstelle, sind sich die meisten Kierdorfer einig: Die Infrastruktur sei immer noch weitestgehend intakt. Schließlich gebe es noch Kindergarten und Grundschule im Ort, betont Dagmar Peters. „Und ein italienisches Restaurant mit Eisdiele“, sagt Michaela Katzer.

Ein einzelner Gast sitzt an diesem heißen Tag auf der Terrasse des Restaurants „Casa Pasini“. „Am Nachmittag ist hier tote Hose“, erklärt Geschäftsführer Dominico Pasini, der vor anderthalb Jahren das Restaurant eröffnet hat. Es fehle nun einmal an einem großen Zentrum im Ort. „Aber ich fühle mich wohl hier.“ Idyllisch sei es. „Und ich habe nette Gäste.“

„Gesellig und lustig“

Nett ist auch die Umgebung von Kierdorf, findet sein Gast Patrick Meevissen. In dem angrenzenden Wald des Naturparks Ville könne man gut spazieren gehen. Nett findet auch Margot Schmitz, die gerade die Straße kreuzt, wie sehr sich die Neubürger einbringen in den Ort. „Die machen wirklich mit.“ Tolle Freundschaften könne man in Kierdorf schließen. „Es ist sehr gesellig hier - und lustig.“

Einer, der sich regelmäßig unter die Leute mischt, ist Bürgermeister Ernst-Dieter Bösche, der seit 1968 in Kierdorf wohnt. Bösche lobt seine Nachbarn. „Sie sind sehr offen, aber unaufdringlich. Wer Kontakt haben möchte, bekommt ihn auch. Wer in Ruhe gelassen werden möchte, wird es auch.“ Bösche selbst schätzt die Dorfkultur, die Erholungslandschaft in der Nähe und die Geselligkeit.

Er habe später immer an die Nordseeküste oder ins Allgäu ziehen wollen, sagt der Bürgermeister. „Den Plan habe ich aber längst aufgegeben. Ich fühle mich hier einfach pudelwohl.“

Auch die 19-jährige Maren Jauck wohnt gern in Kierdorf. „Für Jugendliche ab 16 Jahren ist hier zwar nicht mehr viel los. Aber das Aufwachsen war toll. Man hat mit allen Leuten etwas zu tun.“ Sollte sie einen Studienplatz in Köln bekommen, will sie trotzdem in Kierdorf bleiben. Ihre Mutter, Anita Jauck, schiebt es auf das bequeme „Hotel Mama“. „Hier ist doch nix los. Früher gab es hier eine ganz heiße Disco - das »Kakadu«“, sagt sie. „Heute fahren unsere Jugendlichen nach Köln.“

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