Justizirrtum könnte nach 80 Jahren gesühnt werden

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Paris - Ein geheimnisvoller russischer Autoschieber mit Kontakten zu den Nazis, ein korrupter Polizeibeamter und eine verschwundene Leiche: Der Fall Guillaume Seznec hätte alle Züge eines spannenden Kriminalromans, stünde dahinter nicht eine tragische Realität. 1924 wurde der Bretone wegen Mordes an seinem Freund verurteilt und zur Zwangsarbeit in eine Strafkolonie verbannt - acht Jahrzehnte später fürchtet Frankreich, dass Seznec Opfer eines dramatischen Justizirrtums wurde. Im vierzehnten Anlauf brachte seine unbeirrbare Familie den Fall endlich vor ein Sondergericht für Wiederaufnahmen, das im Zweifel wohl zugunsten des längst verstorbenen Angeklagten entscheiden dürfte.

Bis heute ist unklar, was genau geschah in jenen letzten Tagen des Mai 1923 in Paris. Seznec war damals mit seinem Freund, dem Kommunalpolitiker Pierre Quéméneur, in die französische Hauptstadt gereist. Quéméneur verschwand und wurde nie mehr gesehen. Nach Ermittlungen des dubiosen Inspektors Pierre Bonny verurteilte ein Schwurgericht Seznec als Mörder zu lebenslanger Zwangsarbeit in Französisch-Guyana.

"In diesem Dossier kann man nie sagen: 'Es ist sicher, dass ...'. Sonst würde man handeln wie einst die Geschworenen in der Bretagne", betont die Vorsitzende einer hochrangigen Pariser Richterkommission, Martine Anzani. Sie reichte den Fall am Montagnachmittag weiter an ein Sonder-Revisionsgericht. Für den Enkel des Verurteilten, Denis Seznec, ist dies eine "historische" Entscheidung : "Zum ersten Mal bricht die französische Justiz mit der Illusion ihrer Unfehlbarkeit."

Zeitlebens hatte der 1954 gestorbene Guillaume Seznec seine Unschuld beteuert und gesagt, dass Quéméneur in Paris mit einem russischen Autoschieber namens Gherdi verabredet gewesen sei. Diese Geschichte wurde als Lügenmärchen abgetan, zumal in Bonnys Ermittlungen keine Spur von Gherdi zu finden war. Dies war kein Wunder, machten die Nachfahren Seznecs und ihre Anwälte geltend: Boudjema Gherdi gab es wirklich, wie 1944 aufgetauchte Zeugenaussagen belegten - doch er arbeitete mit dem schillernden Polizisten Bonny zusammen. Beide hatten Beziehungen zur deutschen Gestapo.

Gherdi und Bonny könnten ein Komplott ausgeheckt haben, um Quéméneur aus dem Weg zu räumen und die Tat Seznec als idealem Verdächtigen in die Schuhe zu schieben. Ob dies jemals bewiesen werden kann, ist unklar - doch die Zweifel an der Schuld des Bretonen sind erheblich. Die Seznec-Affäre sei "eines der größten Polizei- und Justizrätsel der Zwischenkriegszeit", sagt Generalstaatsanwalt Jean-Yves Launay als Vertreter der öffentlichen Hand. Er selbst gibt sich "völlig überzeugt von der Unschuld" des Verurteilten.

Wiederaufnahmen von Strafverfahren sind in Frankreich ähnlich selten wie in Deutschland. Bislang wurden 32 Verurteilungen aufgehoben. Seit der Reform des Wiederaufnahme-Rechts 1989 prüften die Richter nur zwei Verurteilungen wegen Schwerverbrechen. In einem spektakulären Fall kam ein Verurteilter 2002 frei: Patrick Dils war zu Unrecht verurteilt worden und hatte wegen eines grausamen Doppelmordes an zwei Kindern im Jahr 1986 ganze 15 Jahre lang im Gefängnis gesessen.

Im Fall Seznec hatte die damalige französische Justizministerin 2001 entschieden, die Revision von Amts wegen voranzutreiben. "Die Justiz zeigt, dass sie mögliche Irrtümer eingestehen kann - selbst historische", sagt der derzeitige Ressortchef Dominique Perben. Für Denis Seznec geht es dabei offenbar nicht um die Familienehre, sondern um Leben und Tod: Wenn er vor Gericht gescheitert wäre, "hätte ich das nicht überleben können", deutete der Enkel des Verurteilten im Fernsehen gar einen möglichen Selbstmord an. "Ich bin gerade noch davongekommen." (AFP)

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