Knapp dem Holocaust entgangen

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Als Siebenjährige wurde sie 1933 in Berlin alleine in den „Nachtzug nach Paris“ gesetzt. Die jüdische Autorin las in der Galerie Lammel aus ihrem gleichnamigen Buch.

Bad Münstereifel - Das Münstereifeler Galeristen-Ehepaar Christel und Manfred Lammel wollte die öffentliche Autorenlesung als Zeichen der Solidarität mit den Juden in Deutschland und Israel gewertet wissen. Eingeladen war Monique Köpke (77), eine gebürtige Berlinerin, die heute in Boston lebt, Jüdin, Sprachlehrerin (Deutsch und Französisch), Mutter von fünf Kindern, Malerin und Fotografin. Eine körperlich eher kleine, von Wesen und Anspruch aber große und gewinnend sympathische Frau.

An ihrer Seite Wulf Köpke, Deutscher, Protestant, emeritierter Germanistikprofessor, Moniques Ehemann seit fast 50 Jahren und Mitautor ihres Buches „Nachtzug nach Paris“, in dem sie autobiographisch ihre Kindheit aufarbeitete. „Mein Mann war beim Schreiben für Soziologisches und für die Hintergründe zuständig, ich für meine Gefühle“, verriet Monique Köpke zu Beginn: „Ohne ihn hätte ich das Buch nicht schreiben können.“

Briefe der Mutter

Auch das Lesen aufwühlender Passagen überlies die Autorin in Münstereifel ihrem Co-Autor. Vor allem Passagen aus den Briefen ihrer Mutter, dem Dreh- und Angelpunkt ihrer Kindheitserinnerungen.

Die Durchschläge dieser Briefe - die Mutter tippte sie stets auf Schreibmaschine - ersetzten ihr hautnahe und unmittelbare Erinnerungen an Mutter Raja und Vater Erich Lehmann-Lukas: „Vor 1937 habe ich nur Fragmente, einzelne Bilder. Für mich hatte mein Leben keinen Zusammenhang, nicht einmal einen Ort. Der Verlust der Heimat war nur der Ausgangspunkt.“

Briefe der Mutter als Ersatz für eigene, dauerhaft gebliebene Erinnerungen. Ersatz, wie auch das Buch der 1925 als Monika Helion Lehmann-Lukas geborenen Autorin als „eindrucksvolles Denkmal“, so schrieb die Süddeutsche Zeitung, das Grab ersetze, das die Eltern nicht bekamen. Sie wurden 1942 von der Vichy-Regierung an die SS ausgeliefert und in Auschwitz ermordet.

Der erste aus der weit verzweigten Berliner Familie Lehmann-Lukas, der 1933 nach dem Reichstagsbrand vor den Nazis floh, war Vater Erich, Kunsthistoriker, Jude und vor allem Kommunist, der „Religion - ganz besonders die jüdische - als Opium fürs Volk“ betrachtete.

Wenige Wochen nach der Flucht des Vaters setzte Mutter Raja die siebenjährige Monika im Anhalter-Bahnhof in den „Nachtzug nach Paris“. Der Abschied in Berlin („Mein erstes und einziges Schuljahr in Deutschland war gerade vorbei“), sie, die Puppe auf dem Arm am offenen Zugfenster, draußen auf dem Bahnsteig die Mutter, war „ein erster Schock, von dem ich mich nicht mehr erholt habe.“ Monika („Ich war eine freche Berliner Göre wie die anderen“) wurde katapultiert zum Gare du Nord, heraus aus der Siedlung in Berlin und hinein in ein schlechtes Pariser Hotel. Der Vater („Er lebte für seine Forschung“) wollte den Louvre in der Nähe haben. Tagsüber setzte er sie in einem Park gegenüber der Bibliothéque National ab. Was sie dort die ganze Zeit getan hat, während er sich drinnen seinen kunsthistorischen Arbeiten widmete, weiß Monique Köpke nicht. Hauptsächlich warten - auf den Mittag, dann kam der Vater zum Essen kurz raus, dann auf 18 Uhr, die „Befreiung“.

Im Herbst 1934 folgte die Mutter ins Exil. Die erwerbslose Familie wechselte in immer schlechtere Hotels. Schließlich bot sich als Alternative für Monika ein Schloss in der Nähe von Paris an, in dem 200 Kinder deutscher Emigranten untergebracht waren. Monika schrie aus dem Hotelschrank, in dem sie sich versteckt hatte, heraus: „Nein, ich will nicht ins Kinderheim!“ Sie kam ins Heim, erst in das auf dem Schloss, dann in andere. Sonntags war Besuchstag, „doch der Vater kam nicht oft“.

An dieser Stelle, wie an anderen, wechselte Wulf Köpke in die Rolle des Vortragenden. Wie im Buch, so band er auch in Münstereifel die Kindheitserinnerungen seiner Frau in die Zusammenhänge der Zeit ein: „Nach 1933 gingen die politischen Emigranten ins Exil, hauptsächlich nach Paris und Prag. Die Juden flohen später. Trotzdem waren die meisten Emigranten schon 1933 Juden.“ Doch die gingen (noch) nicht, weil sie Juden waren, sondern weil „fast alle der um 1890 Geborenen einen mehr oder weniger sozialistischen Hintergrund hatten.“

Nach dem Überfall von Hitlers Truppen im Sommer 1940 wurden Erich und Raja Lehmann-Lukas von der Vichy-Regierung im unbesetzten Frankreich zunächst interniert - er im Lager Le Vernet, sie im Lager Gurs am Fuß der Pyrenäen. Monika, zu der Zeit mit anderen Heimkindern auf Ferien in der Bretagne, entging der Internierung.

Flucht in die Schweiz

Nur die Mutter („Was wird aus Monika? Was wird aus meinem Schriftgut im unbewohnten und verschlossenen Hotelzimmer?“) sah Monika noch einmal wieder - vier Wochen lang auf Besuch in Gurs.

1942 gelang der zu diesem Zeitpunkt sechszehnjährigen Monique mit anderen Pfadfindern die Flucht in die Schweiz: „Derselbe Wald, dieselben Wege und doch ein Unterschied - der von Leben und Tod“.

Nach der eindrucksvollen Lesung kam es zum angeregten Gespräch des Autoren-Ehepaares mit seinen Zuhörern. Dabei antwortete Monique Köpke auch auf die Frage, die ihr in der Nachkriegszeit am häufigsten gestellt wurde, nämlich die, wie sie mit einem Deutschen verheiratet sein und in Deutschland habe leben können: „Ich sehe nicht in jedem Deutschen einen Nazi, das ist nicht meine Natur. Ich sehe mir jeden genau an.“

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