„Kinder, die durchs Raster fallen“Kölner Schulleiter über Ende des Corona-Halbjahres

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Schüler und Schülerinnen sitzen während der Deutsch-Abitursprüfung mit dem vorgeschriebenen Abstand zueinander in einer Sporthalle. (Symbolbild)

  • Das Freitag endende Schuljahr war wie keines zuvor – Wegen der Corona-Krise mussten Schüler und Lehrer Neuland betreten.
  • Wir haben mit drei Schulleitern über die vergangenen Monate, Lehren für die Zukunft und positive Seiten der Pandemie gesprochen.
  • Und darüber, wie es nach den Ferien weitergeht.

Köln – Wie fühlen Sie sich als Schulleiter am Ende eines Halbjahres unter Corona-Bedingungen?

Christa Dohle, Gesamtschule Holweide: Auf jeden Fall extrem k.o. Die Wochen und Monate waren getaktet durch 24 Corona-Mails aus dem Ministerium. Man wartete immer in Habachtstellung auf die nächste und hatte dann extrem wenig Zeit, den Inhalt umzusetzen. Die Vorläufe waren quasi null, und alles kam auf den letzten Drücker. Das war wenig wertschätzend. Und die Beschwerden der Eltern sind bei uns gelandet – nicht im Ministerium.

Dirk Külker, Grundschule Merianstraße in Chorweiler: Wir haben die ganze Zeit durchgearbeitet. Wenn man dann alles vorbereitet hatte, kam die nächste Mail und es konnte ganz anders kommen.

Was war für Sie die größte Herausforderung in diesen Monaten?

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Barbara Wachten, Dreikönigsgymnasium Bilderstöckchen

Barbara Wachten, Dreikönigsgymnasiums Bilderstöckchen: Dass alle routinierten Abläufe auf den Kopf gestellt wurden und man alles neu denken musste: Wegekonzepte, Abstände, Pausenpläne, Kleingruppen. Es gab schulintern viel Verantwortung und sehr viel zu entscheiden. Und man hat eben oft für den Papierkorb gearbeitet, wenn in der Zwischenzeit die nächste Corona-Mail kam. Die mindestens genauso große Herausforderung war aber, im Distanzlernen alle Schüler am Ball zu halten. Ich kann ja noch so tolle Lernplattformen haben. Der Kernpunkt ist doch: Sind alle Kinder ausgestattet? Nicht jede Schule hat so wie die Heliosschule in Ehrenfeld für alle Kinder Tablets. Selbst bei denen, die gut ausgestattet sind, war doch die Frage, wie kriege ich die in die Verpflichtung. Denn es waren ja nur Lernangebote, die nicht negativ bewertet werden durften.

Und wie ist das gelungen? Oder haben Sie viele Schüler verloren?

Dohle: Es ist in weiten Teilen gelungen. Wir haben mit einer Schulcloud und Kiks-Chat gearbeitet. Aber da sind trotz großer Anstrengungen von unseren 2000 Schülern immer noch nicht alle angemeldet. Es gibt Kinder, die durchs Raster fallen. Die kein Endgerät zu Hause haben oder selbst wenn sie eines hätten, es weder WLAN gibt noch jemanden, den sie fragen können, wie das eine oder andere funktioniert.

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Dirk Külker, Grundschule Merianstraße in Chorweiler

Külker: Wir haben in Chorweiler nicht nur viele Kinder, die keine Endgeräte zur Verfügung haben. Wir haben noch nicht mal die Mailadressen von allen Eltern. Bei uns sind die Kinder immer – neben jeder Menge Telefonate – mindestens einmal die Woche auf den Schulhof gekommen. Einzeln und auf Abstand. Um sich Material abzuholen, aber auch, um in Kontakt zu bleiben. Die Lehrer fanden das ungeheuer wichtig, weil man dann ein bisschen erfährt, wie es den Kindern wirklich geht. Am Telefon reden ja nur die Eltern oder sitzen daneben. Bei denen, die nicht kamen, haben wir Lehrer und Sozialarbeiter nach Hause geschickt. An unserer Schule haben 80 bis 90 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. 60 bis 70 Prozent sind Sozialleistungsempfänger. Es gibt Familien, die sich zu fünft oder sechst ein Handy oder ein Tablet teilen. Da kann nicht jeder entspannt arbeiten.

Wachten: Auch bei uns war die Aufteilung der Geräte in den Familien teilweise hochproblematisch. Wenn beide Eltern im Homeoffice waren, standen die jüngsten Kinder oft hinten an und konnten nicht an die Geräte. Oder die größeren Kinder mussten Nachtschichten einlegen, um die Aufgaben zu erledigen. Die Klassenlehrer haben bei den einzelnen Kindern wöchentliche Rückfragen gestellt, wie es läuft und ob sie Hilfe brauchen. Dann sind wir nach den Osterferien zu einem Ausdruckservice übergegangen. Wer zu Hause nicht ausdrucken konnte, was ihm angeboten wurde, konnte das Material in der Schule abholen. Und trotzdem haben wir nicht alle erreicht.

In Sachen Bildungsgerechtigkeit stand Deutschland schon vor Corona nicht gut da. Ist die soziale Bildungsschere durch Corona noch weiter auseinandergegangen?

Wachten: Sie sehen, dass wir da alle ganz stumm werden und nicken...

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Christa Dohle, Gesamtschule Holweide

Dohle: Es macht einen Riesenunterschied, ob ich jemanden habe, der da hinterher ist, ob ich meine Aufgaben mache und mir meine Fragen beantwortet. Wenn ich das über Monate nicht habe, ist das für die Betreffenden kaum noch aufzuholen.

Wachten: Das gilt natürlich auch beim digitalen Lernen. Die vorbildlichen Beispiele, die durch die Medien gingen, wie etwa in Monheim oder in der Heliosschule hier in Köln hatten alle eine andere Grundausstattung. Die haben nicht nur eine Lernplattform, sondern auch alle Geräte zu Hause. Auch hier wird die Kluft deutlich. Den Schulen, die diese Mittel nicht haben, vorzuwerfen, sie hätten sich im Vorfeld nicht richtig aufgestellt, finde ich unfair.

Man hat auch wahrgenommen, dass Eltern mit der Qualität des Lernens auf Distanz sehr unterschiedlich zufrieden waren. Sehr viele haben extrem engagierte Lehrer erlebt, andere beklagen sich über viel zu wenig Betreuung. Wie können Sie sicherstellen, dass jeder seinen Job macht?

Wachten: Natürlich gab es da Unterschiede, und das nehmen Eltern auch wahr. Ich habe als Schulleitung von meinen Kollegen erwartet, dass einmal die Woche zu jedem Schüler Kontakt aufgenommen wird und gefragt wird, wie es ihm geht.

Dohle: Auch wir haben nach den Osterferien auf Wunsch der Eltern konkrete Vorgaben gemacht. Aber es muss auch mal fest gehalten werden: Wer den Distanzunterricht gewissenhaft gemacht hat, hat viel mehr gearbeitet als unter Normalbedingungen.

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Wachten: Um den Standard zu halten, mussten sie pro Klasse 33-mal die Aufgaben für jede Stunde Distanzlernen von jedem bewerten, kontrollieren und zurückschicken. Dann hatten sie noch kein einziges digitales Format entwickelt. Lehrer haben sich noch zusätzlich in Videokonferenz- oder Chattools eingearbeitet. Alle sind ins kalte Wasser gesprungen.

Worin lag die große Chance von Corona?

Külker: Es gab viel mehr Selbstständigkeit bei den Kindern, als wir vermutet haben. Hier in Chorweiler haben wir immer gesagt, wir müssen alles in der Schule erledigen und so wenig wie möglich zu Hause machen lassen. Dadurch wird aber die Eigenverantwortung minimiert. Jetzt mussten alle zu Hause arbeiten. Viele haben super mitgearbeitet und positive Effekte erzielt. Und wir als Lehrer haben gesehen, dass man einen Teil der Verantwortung auch nach Hause geben kann.

Wachten: Die größte Chance war der deutliche Schub bei der Digitalisierung und bei der Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Da wo vorher vielleicht Ängste oder Fragen nach dem Datenschutz standen, gab es nun einfach durch die Notwendigkeit einen neuen Stellenwert für das Thema. Und die Erfahrung, dass nicht alles gleich perfekt sein musste. Man konnte es umsetzen, um daran zu lernen. Aber auch für viele Schüler war das eine gute Erfahrung.

Inwiefern?

Wachten: Es gab viel mehr persönliche Rückmeldung für den einzelnen Schüler. Es gab Telefonate mit Lehrern, Chats mit ihnen und individualisiertes Feedback. Das war aufwendig. Hat aber auch schöne Effekte gehabt, gerade für solche, die sonst im normalen Unterricht in großer Gruppe nicht so zum Zuge kommen und das eigenverantwortliche Arbeiten jetzt gut genutzt haben.

Dohle: Für mich war toll, wie viele sich wieder auf die Schule gefreut haben. Dass ihnen bewusst geworden ist, was alles in der Schule läuft und was sie vermissen. Und dass auch deutlich geworden ist, dass Digitalisierung trotzdem eben nicht alles ist und Medien Lehrer allenfalls ergänzen, aber nicht ersetzen können.

Das heißt, gerade der digitale Schub macht auch klar, wie wichtig das analoge Lernen ist? Denn es gibt ja auch die Befürchtung, dass das auf Dauer ein Lehrersparmodell für die Politik ist.

Wachten: Man kann damit überbrücken oder sinnvoll ergänzen. Aber Corona hat gerade bei den Lehrern das Bewusstsein dafür geschärft, wie wichtig der Kontakt ist und dass wir eine wichtige soziale Rolle einnehmen für die Kinder – als Vermittler und auch als distanzierterer Ansprechpartner neben der Familie.

Wenn Sie sich für das neue Schuljahr etwas wünschen könnten. Was wäre das?

Külker: Ich wünsche mir auf jeden Fall mehr Tempo bei Umsetzungen – egal ob beim Schulbau oder bei der Ausstattung mit digitalen Medien. Wir mussten jetzt in der Pandemie immer sehr schnell handeln. Gleichzeitig brauchen wir oft Jahre Geduld, bis von der Stadt selbst Kleinigkeiten umgesetzt sind.

Wachten: Mein Wunsch wäre, dass jedes Kölner Kind von der Schule einen schuleigenen Rechner zur Verfügung gestellt bekommt. Und jeder Kollege einen Dienstrechner. Damit alle das gleiche haben, alles gleich eingerichtet ist und die Lehrer das dann gut begleiten können. Außerdem braucht jede Schule einen Systemadministrator, der die ganze Ausstattung betreut. Es reicht ja nicht, das alles nur zur Verfügung zu stellen. Davon sind wir noch meilenweit entfernt. Wenn ich daran danke, dass immer noch nicht alle Schulen WLAN haben oder ich ein Jahr auf Netcologne warten muss, damit die Umstellung von Windows 7 auf Windows 10 erfolgt. Andererseits wollen jetzt alle agieren: Die Stadt stattet alle Gymnasien und Gesamtschulen mit Office 365 aus, das Land bietet die Lernplattform Logineo an. Das ist toll.

Nach den Ferien soll die Schule nun wieder in den Regelbetrieb zurückkehren. Und was, wenn das wegen zunehmender Infektionen nicht klappt?

Külker: Wir brauchen Alternativkonzepte für die Szenarien Homeschooling und ein rollierendes System in Kleingruppen. Dann müssen wir eben mit Beginn des Schuljahrs – je nach Entwicklung der Infektionslage – flexibel reagieren. Das haben wir ja jetzt gelernt. Wir werden uns zwei Wochen vor dem Ende der Ferien zusammensetzen und das konkret ausarbeiten – angepasst an die dann aktuelle Lage.

Wachten: Wir bereiten Normalunterricht vor. Aber wir sind nicht blauäugig. Wir werden eine Basis schaffen, von der aus man dann alle drei möglichen Szenarien entwickelt. Aber digitaler Distanzunterricht und parallel rollierender Kleingruppenunterricht in der Schule – das ist personell nicht zu stemmen.

Dohle: Wir sind eine neunzügige Schule. Und 25 Prozent der Lehrer können bei uns als Risikogruppe nicht für den Präsenzunterricht eingesetzt werden.

Wachten: Bei uns sind das deutlich weniger. Trotzdem ist die schlechte personelle Ausstattung der Schulen ein riesiges Problem: Im gesamten Regierungsbezirk Köln durften die Gymnasien für das kommende Schuljahr sehr wenige Stellen ausschreiben. Dabei ist der Bedarf riesig und Massen motivierter Referendare, die auf Stellensuche sind, stünden bereit. Selbst hoch engagierten Vertretungslehrern, die eine feste Stelle verdient hätten, kann ich nichts anbieten.

Viele Eltern treibt mit Blick auf das neue Schuljahr um, dass durch Corona viel Stoff verpasst wurde – zumal zu Hause unterschiedlich viel gearbeitet wurde. Wie soll das alles nachgeholt werden? Oder muss das Land die Unterrichtsinhalte anpassen?

Dohle: Wir überlegen, einen Raum mit Arbeitsplätzen und Betreuung zur Verfügung zu stellen, wo die Schüler dann nach den Ferien täglich zwei bis drei Stunden betreut arbeiten können, um Verpasstes nachzuholen. Außerdem müssen wir spezielle Unterstützungsangebote machen in den ersten zwei Monaten für die Schüler, die ganz große Lücken haben. Aber es geht ja allen Schülern gleich und man muss vielleicht Stoff komprimieren. In diesem Jahr gab es keine zentrale Abi-Prüfung und vielleicht dann ja im nächsten Jahr auch nicht. Im Übrigen finde ich wichtig, in die Richtung zu beruhigen, dass die Kinder in diesem Jahr ganz viel gelernt haben, was in keinem Schulbuch steht: Selbstorganisation, Eigenmotivation und Digitalkompetenz.

Wachten: Wir werden sehen, was möglich ist. Wir gehen jetzt nicht einfach zum Stoff der Klasse 8 über, wenn aus Klasse 7 wichtige Themen nicht bearbeitet sind. Aber gerade die Älteren, von denen viele während Corona gesagt haben „Ich mach nichts, weil es nicht benotet wird“, müssen jetzt wieder lernen, Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu übernehmen. Da müssen wir sie wieder hinschubsen. Aber es wird noch deutlicher werden, wie wichtig es ist, differenziert zu unterrichten. Ich kann ja nicht Kindern, die fleißig bei Corona beim Distanzlernen gearbeitet haben, sagen, ihr macht das jetzt alles noch mal. Jeder muss auf seinem Lernniveau angemessen weiter Fortschritte machen können. So arbeiten wir ja jetzt auch schon: Mit Fördermaßnahmen und Zusatzangeboten jedem Kind die passenden Möglichkeiten zu geben ist unser tägliches Geschäft. Es wird jetzt vielleicht nur noch ein bisschen extremer.

Dohle: Wir haben jetzt einfach eine Situation, die guten, differenzierten Unterricht fördert.

Wegen Corona wurden in diesem Jahr alle Schüler versetzt. Befürchten Sie nicht, dass das böse Erwachen nur nach hinten geschoben wird?

Dohle: Ich finde es eine gute Idee, dass alles erstmal weitergeht. Dass Kinder ihre Klasse oder Gruppe jetzt verlassen, wäre sicher nicht die Lösung.

Külker: Das Ministerium gibt ja auch viel Flexibilität. Wir können erst mal abwarten, wie sich der Schüler entwickelt. Dann kann er auf Antrag auch noch im laufenden Schuljahr zurückgestellt werden, ohne dass das auf die Schulzeit angerechnet wird.

Wachten: Das sind Einzelfallentscheidungen. Für den einen ist das gut, für den anderen ist der Schritt zu groß und man muss nachsteuern. Aber alle bekommen eine Chance. Vielleicht trauen wir den Kindern einfach mal zu, dass sie damit schon einen Umgang finden werden. Wir Lehrer sind da, um das intensiv zu begleiten. Und die Eltern auch.

Was wünschen Sie sich für das neue Schuljahr von den Eltern?

Wachten: Mehr Gelassenheit und das Vertrauen in uns Lehrer, dass wir das im Sinne ihrer Kinder regeln – einfach weil es auch uns um den Lernerfolg jedes einzelnen Schülers geht.

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