Kölner Internist fordert „No Covid“-Strategie„Uns läuft buchstäblich die Zeit davon“

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Beamte der Bun­des­po­li­zei kontrollieren Flugzeugreisende derzeit besonders intensiv – die Angst vor einer rasanten Verbreitung der Corona-Mutation ist groß.

  • Prof. Michael Hallek, Mitglied im Krisenstab zur Pandemie-Bekämpfung an der Kölner Uniklinik, will die Infektionszahlen auf Null bringen.
  • Dafür schlägt er die viel diskutierte „No Covid“-Strategie vor – auch angesichts der sich rasant ausbreitenden englischen Mutation des Coronavirus.
  • Der republikweit renommierte Experte sagt auch: „Der Wischiwaschi-Lockdown macht uns auf Dauer alle fertig“
  • Lesen Sie hier das ganze Interview.

Köln – Herr Professor Hallek, in Köln zeichnet sich in der Pandemie eine leichte Entspannung ab. Aber das reicht Ihnen nicht. Sie wollen die Infektionszahlen auf Null bringen und schlagen eine „No Covid“-Strategie vor. Wie soll das gehen? Prof. Michael Hallek: Die gute Nachricht dieser Tage ist doch: Der Lockdown wirkt. Die Zahlen aus der Zeit um Weihnachten, in der vergleichsweise wenig getestet wurde, haben ein völlig verzerrtes Bild gezeigt: Die wirklichen Neuinfektionszahlen und die Inzidenz waren wesentlich höher als die gemeldeten Werte. Gesehen hat man das an den anhaltend hohen Sterbefällen in den folgenden Wochen. Todeszahlen lügen nicht. Seit Mitte Januar aber greifen die Maßnahmen. Allerdings haben viele Menschen – mich eingeschlossen – das Gefühl, es geht alles sehr zäh diesmal, viel zäher als beim ersten Lockdown. Ihr Kolumnist Stephan Grünewald vom Kölner „Rheingold“-Institut hat das Problem sehr gut beschrieben: Die Menschen sind mürbe, das Land ist Corona-müde. Und da kommen Sie gerade jetzt und sagen, obwohl die Zahlen heruntergehen: Der Lockdown muss noch härter sein?

Nicht härter, aber klüger und konsequenter. Dieser Wischiwaschi-Lockdown seit November macht uns auf die Dauer alle fertig. Er kombiniert auf fatale Weise zwei Nachteile: Wir kriegen das Virus nicht in den Griff, und der Wirtschaft schaden wir trotzdem. Ein ineffizienter Lockdown richtet immense wirtschaftliche Schäden an. Die Ineffizienz in der Umsetzung der Pandemiebekämpfung hält das Virus am Leben, führt zu Verdruss und verlängert die Krise. Deshalb mache ich mit einer Gruppe von Experten verschiedener Disziplinen einen Alternativvorschlag, damit der gegenwärtige Lockdown wirklich der letzte bleibt.

Prof. Dr. Michael Hallek

Professor Michael Hallek

Haben Sie nicht immer gesagt, die Wissenschaft müsse mit einer Stimme sprechen?

Ertappt! Ganz konsequent ist das nicht. Aber wir hatten als Expertengruppe das Gefühl, wir müssen uns jetzt zu Wort melden. Zumal die Zeit knapp ist: Der momentan eingeschlagene Weg samt dem Narrativ „Wir müssen mit dem Virus leben“ wird nämlich nicht funktionieren.

Warum nicht?

Wenn wir bei der Inzidenz von 50 aufhören, die die Virologin Melanie Brinkmann inzwischen als die „blöde 50“ bezeichnet, dann – jede Wette! – wird es bald wieder von vorn losgehen, und zwar in einer Geschwindigkeit, die wir nicht mehr beherrschen. Ich darf daran erinnern, dass die Inzidenzzahl 50 einmal die Obergrenze war, die man auf keinen Fall überschreiten wollte. In der derzeitigen politischen Debatte ist die 50 jetzt plötzlich für manche zur Untergrenze für die Öffnung geworden. Das ist erstens unlogisch und zweitens gefährlich. Und drittens: Uns läuft jetzt buchstäblich die Zeit davon. Die englische Mutation des Coronavirus ist – wie meine britischen Kollegen und Freunde sagen – „very scary“, also richtig gefährlich. Sie wird in nur wenigen Wochen auch hier die dominierende Form des Virus sein. Sie ist bereits klar erkennbar in Köln angekommen, wie Testergebnisse aus den vergangenen Tagen gezeigt haben. Wir haben keine Chance gegen diese Mutation, wenn wir die Inzidenzzahlen nicht schleunigst dramatisch reduzieren. Oder um es deutlich zu sagen: Wir müssen verhindern, dass wir ein Bergamo am Rhein erleben.

Wie soll das gelingen?

Es ist eine politische Entscheidung, bei einem Wert um die 50 nicht aufzuhören. In der australischen Millionenstadt Melbourne haben sie noch drei, vier Wochen länger durchgehalten, waren dann bei Inzidenzen um die zehn – und hatten es überstanden. Das Ziel war sogar schneller erreicht, als die Verantwortlichen angenommen hatten, weil die Bevölkerung mitgemacht hat.

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Eine Frage der Motivation?

Wir verfolgen einen freiheitlichen Ansatz. Wir haben diese Pandemie satt und wollen unser Leben zurück. Zugleich wollen wir raus aus dieser fatalistischen Grundhaltung, „wir kommen gegen Corona eh nicht an, wir werden das Virus nicht los, sondern müssen mit ihm leben lernen“. Nein! Wo die Inzidenz gegen Null geht, kann man öffnen und zu einem normalen Leben zurückkehren. Deshalb glauben wir, dass sich die Bürgerinnen und Bürger für „No Covid“ gewinnen lassen. Denn danach haben wir alle miteinander Ruhe – im besten Fall für immer.

Und wie sieht nun der Weg zu diesem Ziel aus?

Die bloße Eindämmung des Virus reicht nicht. Sich auf die Impfung zu verlassen, hilft allein auch nicht weiter. Beim derzeitigen Impftempo werden wir bis zum Sommer bestenfalls die Generation 60 plus durchgeimpft haben. Das reicht aber nicht, um die Pandemie zu stoppen. Wenn wir nicht mehr tun, erwischt uns dann die dritte Welle. Was wir also brauchen, ist eine Kontroll- und Eliminierungsstrategie. Pandemie-Bekämpfung ist immer ein ganzheitlicher Ansatz. Einzelmaßnahmen (die vulnerablen Gruppen schützen, Maske tragen, impfen) reichen nicht. Es muss alles zusammenwirken. Dann geht es schnell. In den historischen Beispielen der Pandemiebekämpfung wurde jeweils schnell und entschlossen gehandelt. Das Erfolgskonzept lautet: Umfassend testen, jede Infektion konsequent verfolgen, wirkungsvolle Quarantäne. Man lässt es einfach nicht zu, dass sich das Virus unerkannt verbreitet. In mehr als zwei Dutzend Ländern ist das schon gelungen.

Sie reden davon, das Virus zu „eliminieren“, es „niederzuringen“. Hat Stephan Grünewald nicht recht, wenn er dahinter illusorische, vielleicht sogar gefährliche Ausrottungs- und Endkampf-Fantasien vermutet?

Nein, da liegt er meines Erachtens falsch. Die Corona-Pandemie ist auch ein soziologisches Phänomen. Sie existiert nur, weil wir Menschen als Wirt mit vielen anderen in Kontakt sind. Würden wir stillstehen, könnte das Virus sich nicht vermehren. Man kann es aber wegbekommen. Das ist die Erfahrung jeder Pandemie. Die Null-Strategie hat überdies den Vorteil, dass sich das Risiko verringert, dass sich neue Mutanten entwickeln. Wenn wir dem Virus freien Lauf lassen, züchten wir gewissermaßen selbst die nächsten Mutanten – im schlimmsten Fall bis zur Resistenz gegen Impfstoffe. Dieses Experiment würde ich ungern wagen.

Aber ein Stück Stillstand gehört auch zu Ihrem Konzept. Die Leute sollen sich nur dort frei bewegen dürfen, wo die Infektionszahlen entsprechend niedrig sind.

Wir denken an „grüne Zonen“, in denen man sich frei bewegen kann. Und eine grüne Zone wird nur dann rot, wenn Infektionen auftreten, deren Verlauf nicht nachverfolgt werden kann.

Laden Sie hier das offizielle Papier mit dem Namen „Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2“ zur No-Covid-Strategie herunter.

Das Zonen-Modell wurde von einem theoretischen Physiker entworfen. Und bei allem Respekt, es klingt auch sehr theoretisch. Wie stellen Sie sich solche Zonen vor? Und wie wollen Sie die voneinander abgrenzen? Die Rheinbrücken sperren? Die Ausfallstraßen abriegeln?

Nun, das Konzept ist praxiserprobt. Also keine Theorie. Es hat in australischen Ballungsräumen wie Melbourne oder Sydney mit jeweils mehr als vier Millionen Menschen funktioniert. Auch in Litauen, dem sehr dicht besiedelten Vietnam mit mehr als 90 Millionen Menschen. Auch in Taiwan und vielen anderen Ländern wurden ähnliche Strategien erfolgreich verfolgt. Aber in der Tat ist die Mobilitätsfrage die wahrscheinlich schwierigste. Wir wollen und können die Gesellschaft nicht zur Bewegungslosigkeit verdammen. Das geht schon deshalb nicht, weil wir möchten, dass die Wirtschaft weiter läuft. Aber wir wollen die sogenannte nicht-essentielle Mobilität – Tourismus, Shoppingtouren, private Besuche – unterbinden. Und dies auch nicht generell, sondern vor allem zwischen roten und grünen Zonen. In und zwischen grünen Zonen ist Mobilität möglich.

Und wie stellen Sie sich das Unterbinden vor?

Mit klaren Anordnungen und stichprobenartigen Kontrollen samt klaren Sanktionen. Die Compliance-Forschung sagt, diese Kombination sei außerordentlich wirkungsvoll – besser auch als Verbote, die dazu tendieren, dass die Leute sie unterlaufen, weil sie sich gegängelt fühlen. Verantwortlich für die Kontrollen wären die Kreise und kreisfreien Städte, in deren Zuständigkeit die Pandemiebekämpfung über die Gesundheitsämter ja ohnehin schon ist. Nehmen wir an, Bergisch Gladbach wäre grüne Zone und Köln wäre rote Zone, dann hätte Bergisch Gladbach doch selbst das größte Interesse, dass nicht alle Kölner zum Einkaufen nach Bergisch Gladbach fahren und den Erfolg zunichtemachen. Und: es gibt diese Situation bereits in Deutschland: Münster oder Rostock beispielsweise haben relativ geringe Inzidenzen und sind erfolgreich in der Pandemie-Bekämpfung. Sie haben Konzepte gestartet, um den Zustrom von außen mit gezielten Maßnahmen zu kontrollieren.

Und was ist mit denen in der roten Zone? Warum sollten die sich um Zonengrenzen kümmern?

Es kommt darauf an, die Bevölkerung zu einer gemeinsamen Anstrengung zu motivieren. „Demokratie ist die wichtigste Waffe gegen das Virus“, haben uns Experten aus Taiwan gesagt, wo der Kampf gegen Covid mit einer Null-Strategie gewonnen wurde. Wir würden es über den Wettbewerbsgedanken versuchen, der ja auch Teil unserer Wirtschaftsordnung ist. Man könnte zum Beispiel einen nationalen Preis ausschreiben für die ersten Gemeinden, die als erste auf Null kommen. Die Freiheiten, die sich erkämpft haben, möchten dann doch sicher auch die Nachbarn gern für sich gewinnen. Im Grunde ist es in der politischen Diskussion doch jetzt schon so: Jeder Ministerpräsident, jede Bürgermeisterin will, dass die Zahlen bei ihm oder ihr niedrig sind. Wenn die Kölner merken, die Düsseldorfer bekommen das hin, werden sie sich sehr schnell fragen, „und warum nicht auch wir?“ Diesen gesunden Egoismus möchten wir für eine Konkurrenz zum Wohle aller nutzen, in einer Art „sozialen Pandemiewirtschaft“.

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