Kölner Mediziner über Corona„Umgang mit Todesfällen ist überhaupt nicht vertretbar“

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„Wir beklagen, dass etwa 3000 Verkehrstote pro Jahr immer noch zu viel sind – zu Recht. Also sind sicher auch knapp 500 Covid-Todesfälle an einem einzigen Tag viel zu viele. Und viele dieser Todesfälle wären ja vermeidbar“, sagt Michael Hallek. (Symbolbild)

Köln – Die geplanten Lockerungen über Weihnachten hält Michael Hallek, der Koordinator des Stabes zur Pandemie-Bekämpfung an der Kölner Uniklinik,  für falsch. „Es kann doch nicht sein, dass wir die Zahlen über Monate mühsam herunterstottern, um sie dann nach Weihnachten wieder explodieren zu lassen. Das wäre absurd“, sagt der Mediziner. „Ich hoffe, dass die Politik von den Lockerungs-Plänen noch Abstand nimmt. Mein Vorschlag: Wir verwenden unsere Weihnachtsferien, um das Problem in den Griff zu bekommen. Mit einem harten Lockdown in einer Zeit, in der ohnehin viele Bereiche runterfahren.“ Hallek plädiert im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit Blick auf asiatische Länder, die nach harten Einschränkungen deutlich weniger Fälle registrieren, für eine neue Strategie. Auch, um Todesfälle zu verhindern.

Herr Professor Hallek, Anfang Dezember können wir nur spekulieren, wie lange der November-Lockdown noch andauern wird. Erkennen Sie derzeit eine politische Strategie?

Ja, es gibt in Deutschland eine Strategie zur Pandemie-Bekämpfung. Sie geht aber ein wenig unter in der öffentlichen Diskussion. Denn innerhalb dieser Strategie wird häufig angepasst und nachgebessert. Deutschland verfolgt von Beginn an eine Eindämmungsstrategie. Diese steht im Gegensatz zur Eliminationsstrategie, mit der viele Länder im pazifischen Raum recht erfolgreich versucht haben, das Virus auszurotten. Das Konzept der europäischen Länder ist es, die Kurve abzuflachen. Das Ziel war es dabei auch, Infektionen nachzuverfolgen. Im Sommer ist uns das in Deutschland gelungen. Diesen Vorsprung haben wir nun verspielt – und das tut mir weh. Denn es war vorhersehbar. Inzwischen sind auch unsere Krankenhäuser überlastet. Wir stehen nur noch geringfügig besser da als unsere europäischen Nachbarn.

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Es wird viel über Auslastungen gesprochen, hunderte Todesfälle pro Tag werden kaum problematisiert. Ist das vertretbar?

Nein, das ist überhaupt nicht vertretbar. Wir beklagen, dass etwa 3000 Verkehrstote pro Jahr immer noch zu viel sind – zu Recht. Also sind sicher auch knapp 500 Covid-Todesfälle an einem einzigen Tag viel zu viele. Und viele dieser Todesfälle wären ja vermeidbar. Man kann die Infektion mit diesem Coronavirus verhindern. Es darf keine Doppelstandards geben. Mich ärgert daher sehr, wenn sich die Diskussion auf die Auslastung der Intensivstationen fokussiert. Denn es ist ärztliche Aufgabe, schwere Erkrankungen durch Prävention zu vermeiden. Ich sage ja auch nicht zu einem Raucher: Du kannst ruhig weiterrauchen, wenn du Lungenkrebs bekommst, behandle ich dich.

Mit dem November-Lockdown wurde auch die Teststrategie angepasst. Lassen sich die Maßnahmen ohne vergleichbare Zahlen überhaupt bewerten?

Es wird nun weniger getestet, das halte ich aber nicht für besonders problematisch. Von einer gewissen Dunkelziffer ist immer auszugehen. Diese Dunkelziffer ist nun gestiegen, das wissen wir. Und die Gesundheitsämter können derzeit ohnehin nicht mehr jede Infektion nachverfolgen. In Japan wurde beispielsweise weniger als bei uns getestet – und dennoch gibt es dort prozentual etwa zehn Mal weniger Covid-Todesfälle als bei uns. Die Menschen sind rücksichtsvoller und der Rückhalt für die politischen Maßnahmen ist größer. Beides halte ich für entscheidend.

Corona-Tests sind überbewertet?

So einfach ist es nicht. Die Teststrategie ist aus meiner Sicht nicht das entscheidende Kriterium für die Bewältigung dieser Krise. An Schulen oder in Krankenhäusern – überall dort, wo Infizierte unbedingt ferngehalten werden müssen – sind Tests aber sehr wichtig und sinnvoll. Dass jeder, der Grippe-Symptome hat, zwingend einen Test braucht, würde ich bezweifeln. Er kann auch erstmal zu Hause bleiben.

Nicht nur Japan, auch Taiwan, China und Vietnam haben die Pandemie scheinbar schon überstanden. Was müssen wir aus Asien lernen?

Die Maske ist dort eine selbstverständliche Rücksichtsgeste und nicht ein Eigenschutz. Das haben hier viele Menschen immer noch nicht wirklich begriffen. Ein weiterer Grund ist die Isolation von Infizierten. Wer in den genannten Ländern mit dem Coronavirus infiziert ist oder einreisen will, wird konsequent in Quarantäne genommen. Das kann bedeuten, dass man zwei Wochen überwacht im Hotel verbringt. Ob wir das wollen, weiß ich nicht. Aber man sollte darüber diskutieren, denn die Alternative heißt womöglich: Wir leben ein weiteres halbes Jahr oder länger mit massiven Einschränkungen für alle, also beispielsweise ohne kulturelle Veranstaltungen, oder Restaurantbesuche. Anders ausgedrückt: Wenn sich alle an bestimmte Regeln halten, brauchen wir keinen Lockdown.

Brauchen wir mehr Einschnitte im Datenschutz?

Ich denke, auch das muss offener diskutiert werden. Es geht um relative Freiheiten, um Abwägung. Und die Freiheit, sich frei zu bewegen, muss man abwägen gegen die Freiheit, Ortungsdaten für sich zu behalten – anstatt sie zum Zweck der Pandemiebekämpfung verschlüsselt zur Verfügung zu stellen. Wir schaffen es offensichtlich nicht so gut, Dinge gemeinsam zu beschließen und dann durchzuziehen. Etliche Maßnahmen gelten nur in einzelnen Regionen, vieles erscheint als Stückwerk – und das ist gefährlich.

Stückwerk ist aber auch das Wesen des Föderalismus.

Dennoch habe ich die Sorge, dass manche Debatte derzeit ein politischer Selbstzweck ist. Egal, was beschlossen wird: Irgendeine Landesregierung oder ein Spitzenpolitiker hat immer schon die nächste Idee, hält eine bestimmte Maßnahme für überflüssig oder für viel zu lasch. So lässt sich eine Pandemie nicht effektiv bekämpfen. Es braucht ein gemeinsames Ziel und klare, für alle gültigen Vorgaben. Die Inkohärenz in der politischen Diskussion verwirrt die Bürger und senkt die Bereitschaft mitzumachen. Sie ist letztlich ein Risiko.

Inkohärent sind beispielsweise die Abstandsregeln: Restaurants gelten ohne verlässliche Zahlen als zu gefährlich, in Bahnen ist hingegen nur selten an Mindestabstand zu denken.

Ich stimme zu. Die Frage, wie man öffentliche Verkehrsmittel sicherer machen könnte, wurde politisch noch nicht ernsthaft gestellt. Dabei könnte die Deutsche Bahn einfach Platzkarten vergeben – ausländische Bahngesellschaften machen das immer. Man könnte darüber nachdenken, in Busse und Bahnen ab einer bestimmten Befüllung niemand mehr zusteigen zu lassen. Es geht dabei auch um Glaubwürdigkeit: Wenn wir Neuinfektionen wirklich verhindern wollen, müssen wir es überall tun und konsequent.

Das Gegenteil bahnt sich mit den geplanten Lockerungen zu Weihnachten an. Halten Sie diese für angemessen?

In diesem Jahr sollten wir uns auf ein anderes Weihnachten einstellen. Natürlich kann im kleinen Kreis gefeiert werden. Aber niemand sollte auf die Idee kommen, wie in jedem anderen Jahr von Familienfeier zu Familienfeier zu pendeln, nur weil es erlaubt ist. Sonst laufen wir im Januar in eine Katastrophe. Es kann doch nicht sein, dass wir die Zahlen über Monate mühsam herunterstottern, um sie dann nach Weihnachten wieder explodieren zu lassen. Das wäre absurd.

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Ich hoffe, dass die Politik von den Lockerungs-Plänen noch Abstand nimmt. Mein konkreter Vorschlag: Wir verwenden unsere Weihnachtsferien, um das Problem in den Griff zu bekommen. Mit einem harten Lockdown in einer Zeit, in der ohnehin viele Bereiche runterfahren. Wir machen das gemeinsam und ohne Sonderregelungen. Wir bekommen die Neuinfektions-Zahlen weit runter und lassen danach nicht mehr locker: Effiziente Kontaktverfolgung und effiziente Quarantäne, Testen in relevanten Einrichtungen. Dann die Impfung.

Wäre es mit einem solch harten Lockdown möglich, die Zahlen so weit zu senken, dass wieder jede Infektion nachverfolgt wird?

Das denke ich schon. Es funktioniert jedes Mal – in Frankreich gingen die Zahlen nach dem jüngsten Lockdown wieder massiv nach unten. Ich weiß aber nicht, ob diese Strategie wirtschaftlich sinnvoll ist. Die aktuellen Zahlen sprechen hier eher für unsere Eindämmungsstrategie – der wirtschaftliche Schaden fällt nicht so stark aus wie befürchtet. Als Mediziner hätte ich dennoch sehr viel übrig für eine klare, harte, kurze Strategie. Sie würde Leben retten. Doch ich sehe auch die politische Schwierigkeit: Ein Land wie Deutschland lässt sich nicht so einfach schließen, es lebt von offenen Grenzen.

Es bräuchte also mehr europäische Maßnahmen?

Unbedingt. Man hätte längst versuchen müssen, ein stärkeres Wir-Gefühl auszulösen. Denn die populistisch-autokratischen Regierungen schaffen es am schlechtesten. Trump und Bolsonaro haben sich komplett verlaufen, zu Beginn auch Johnson. Die Infektionszahlen ihrer Länder sind teilweise zehn Mal höher als unsere. Es geht also auch deutlich schlechter als hier. Es sollte doch einen großen Ansporn für die offenen europäischen Gesellschaften darstellen, diese Krise besonders gut zu bewältigen. Vielleicht fehlt es dafür bislang auch an charismatischen Figuren in der Politik. In Neuseeland ist es Jacinda Ardern gelungen, ihr ganzes Land in der Pandemiebekämpfung– trotz starker Einbußen für den Tourismus – zu einen und so das Virus binnen weniger Wochen aus ihrem Land zu bekommen. Nun ist Neuseeland nicht Europa, dennoch können wir uns von ihr etwas abschauen.

Doch Charisma und Wir-Gefühl allein würden kaum reichen.

Richtig. Es ist beispielsweise überfällig, dass wir eine sichere europäische Datenplattform entwickeln, um Infektionen EU-weit zu erfassen und zu bekämpfen. Das sollte entschlossen vorangetrieben werden. Ideen wie diese könnten die Grundlage sein für eine gemeinsame politische Strategie – ansonsten spielen unsere offenen Grenzen dem Virus weiterhin in die Karten.

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