Die Krebsdiagnose schlägt einen tiefen Krater ins Leben der Kölnerin Susanne Bösel. Wer ihr hilft? Onkolotsin Kirsten Hahn.
Kölner Krebs-PatientinWie Onkolotsin Kirsten Hahn Betroffenen durch die schwere Zeit hilft

Susanne Bösel hat Eierstockkrebs, Kirsten Hahn ist Onkolotsin und begleitet sie durch den Dschungel an Versorgungsangeboten.
Copyright: Martina Goyert
Monatelang tippen die Ärzte auf Long Covid. Burnout. Vielleicht eine allgemeine Erschöpfung? Oder gar eine verfrühte Demenz? Als Susanne Bösel im November 2023 nicht mehr weiterweiß und in die Klinik geht, hat sie Eierstockkrebs. „Wussten Sie das gar nicht?“ habe man sie nach einer Magenspiegelung gefragt. Die Diagnose schlägt wie ein Meteorit in das Leben der Kölnerin ein. Friedlich war es vorher, auch fröhlich. Nun ist da hauptsächlich Schutt. Und brüllen, weinen, am Boden liegen, starren. Panik. „Werde ich Weihnachten noch erleben?“
Es vergehen Monate, bis Bösel aus dem Krater wieder ans Tageslicht geklettert ist. Dabei fast immer an ihrer Seite: Kirsten Hahn, Onkolotsin, aber auch selbst Patientin. „Survivor“, nennt sie sich. Schließlich ist die Lebenserwartung nach der Diagnose Eierstockkrebs „grottig“, vor allem weil die Krankheit, die jährlich bei gut 7000 Frauen diagnostiziert wird, in zwei von drei Fällen erst im fortgeschrittenen Stadium erkannt wird. Fünf Jahre Überleben schafft nicht einmal jede Zweite.
Kirsten Hahn aber ist auch nach zehn Jahren noch hier. Und sie hat sich vorgenommen, jeden ihrer Tage zu nutzen. Indem sie Menschen wie Bösel zur Seite steht, sie bei der Hand nimmt und aus dem Krater führt. Sie will Antworten suchen, die sich gar nicht so leicht finden: Wer bietet die besten Versorgungsangebote? Was sind geeignete Therapien? Aber auch: Wie kann ich meine Lebensfreude bewahren? Und: Wie sieht es eigentlich mit Sex aus?
Besteht ein Pflegegrad, lassen sich Leistungen mit einigen Pflegekassen abrechnen
Onkolotsen fußen auf einem Projekt der Sächsischen Krebsgesellschaft, das auch vom Sozialministerium Sachsen unterstützt wird. Kerngedanke ist ein Mehr an Hilfe für eine alternde Gesellschaft, in der die Zahl der Krebsdiagnosen zunimmt und das Gesundheitssystem damit an seine Grenzen bringt. Onkolotsen sollen Ansprechpartner für betroffene Familien sein und sie bei ihrem optimalen Weg durch die Behandlungs- und Versorgungsangebote unterstützen. Die Sächsische Krebsgesellschaft bietet dazu Weiterbildungen in ganz Deutschland an, nach eigenen Angaben wurden auch 30 Kollegen in NRW ausgebildet. Geschützt ist die Berufsbezeichnung aber nicht.
Im NRW-Gesundheitsministerium plant man auf Anfrage keine finanzielle Förderung des Projekts. Ein Sprecher teilt mit: „Mit dem Landeskrebsregister NRW und der Krebsgesellschaft NRW e.V., mit ihren zahlreichen Beratungsstellen, verfügt NRW über ein gutes Netz an Einrichtungen.“ Nutzen können das Angebot alle Krebspatienten aller Bundesländer, in NRW lassen sich die Kosten über einige Pflegekassen abrechnen – allerdings nur dann, wenn schon ein Pflegegrad besteht. Für die Beschäftigten sei das System kompliziert und ausbaufähig, sagt Hahn. „Um meine Arbeit abzurechnen, müsste ich mit jeder Pflegekasse einen extra Vertrag abschließen, in Bayern ist der Stundensatz immerhin höher als in NRW.“ Hahn arbeitet deshalb derzeit überwiegend ehrenamtlich für den Verein Gynäkologische Krebserkrankungen nach langjähriger Tätigkeit im öffentlichen Dienst.
Keine wirksame Früherkennung, unübersichtliche Therapieangebote
Würde man die Fragen an Kirsten Hahn zu einzelnen Haufen aufeinanderstapeln, man erhielte ein ganzes Gebirge. Schon bei der Recherche zum Thema Früherkennung oder geeigneter Therapie, tappten viele Betroffene gerade nach der Diagnose Eierstockkrebs im Dunklen, sagt Bösel: „Es gibt quasi keine wirksame Früherkennung für Eierstockkrebs.“ Zwar könne man einen Ultraschall als Selbstzahlerin anfertigen lassen, mehrere Studien belegen aber, dass mit dieser Untersuchung ebenso viele Frauen an Ovarialkarzinom sterben wie ohne. „Ich will deshalb auch Frauen, die nicht krank sind, darin bestärken, auf ihren Körper zu hören. Ihre Beschwerden anzusprechen. Sich nicht abwimmeln zu lassen. Nachzufragen und sich für sich selbst einzusetzen“, sagt Hahn.

Kirsten Hahn sagt: „Mein Team, das bei meinem Sterben dabei sein soll, steht. Es ist klar, wer sich um meine erwachsenen Söhne kümmern wird. Außerdem habe ich mich entschieden: keine Musik. Ich will Ruhe beim Abschied.“
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Auch bei der Frage nach der richtigen Therapie fühlten sich Betroffene zuweilen eher wie in einem unübersichtlichen Schilderwald. Zwar habe der Krankenhausplan in NRW die Angebotsbreite ein wenig ausgedünnt. Zu verwirrend sind Hahns Meinung zu Folge aber dennoch die Auszeichnungen der Kliniken. Reicht das Sigel „zertifiziert“? Was bedeutet „Kompetenz-Krankenhaus“? Wie groß sind die Erfahrungen? Garantiert eine gynäkologische Kernkompetenz auch gleichzeitig eine besondere Beschlagenheit beim Thema Ovarialkarzinom? Welche Behandlung wünscht sich die Frau? Wie gut wurde sie beraten? Was kommt auf sie zu?
„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es viel Lebensqualität bringt, wenn man den Prozess des Sterbens bedenkt, solange es einem noch gut genug geht“
„Eine umfassende Operation bedeutet, dass sie von der Brust bis zum Schambein aufgeschnitten und ihr Bauchraum mittels eines Metallrahmens aufgespreizt wird“, sagt Hahn. Beim Versuch, das Krebsgewebe möglichst komplett zu entfernen, werde „jedes Organ abgetastet und angehoben“. Die sich anschließende Chemotherapie reist mit vielen Nebenwirkungen an. Bei Bösel waren es: Übelkeit, Erbrechen, Durchfälle, „höllische Leibschmerzen“, geschwollene Handgelenke, Erschöpfung sowie ein Nabelbruch. „Und dann geht es natürlich auch um die Angst vor dem Tod“, sagt Hahn.
Bösel will diese Sätze auch heute noch nicht wirklich hören. Sie habe kurz nach der Diagnose zwar ihr gesamtes Arbeitszimmer aufgeräumt und alles weggeworfen. Sie habe ihre Finanzen sowie ihren Nachlass sortiert, Vollmachten ausgefüllt. Sie habe sich dazu durchringen können, einen Plan für ihre Beerdigung zu erstellen: Ein Fass Kölsch, Frikadellen, so in die Richtung. „Aber das ist ja alles nur für die anderen. Bei der Frage nach dem Sterben steige ich immer noch aus. Da fange ich einfach an zu weinen.“ Kirsten Hahn lächelt nachsichtig, lässt aber nicht locker: „Viele Patientinnen halten sich daran fest, dass sie länger leben, wenn sie nur nicht an den Tod denken. Das kann ich aber nicht bestätigen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es viel Lebensqualität bringt, wenn man den Prozess des Sterbens bedenkt, solange es einem noch gut genug geht.“

Susanne Bösel ist noch auf dem Weg zur Akzeptanz: „Bei der Frage nach dem Sterben, steige ich immer noch aus. Da fange ich einfach an zu weinen.“
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Wie diese beiden fast gleichalten Frauen so dasitzen, erinnern sie am ehesten an Trainerin und junge Fußballspielerin im Formtief. Bösel hadert, wechselt launisch zwischen großen Plänen und dem Bedürfnis, alles hinzuschmeißen. Sie zappelt zuweilen unruhig auf ihrem Stuhl, lacht laut und schüttelt dann wieder betrübt den Kopf. Hahn glättet die Ausschläge, ihr Lächeln hält die Adjektive „mild“ und „geduldig“ an der Hand und alle Beteiligten wissen, sie wird diese auch nicht loslassen, egal wie unangenehm die Lage auch werden wird.
Bösel und Hahn schreiben sich viel, treffen sich aber auch regelmäßig und sind mittlerweile auch gemeinsam in der Selbsthilfe aktiv. Mit ihrer betonten Abgeklärtheit könnte einem die 58-Jährige zuweilen auch mal auf die Nerven gehen. Wenn man nicht wüsste, dass sie gar nicht abgeklärt ist. Sondern ja im gleichen Boot sitzt. Dieselben verzweifelten Fragen stellte. Sie nur mittlerweile für sich beantwortet hat. Hahn ist ein gutes Vorbild: „Mein Team, das bei meinem Sterben dabei sein soll, steht. Es ist klar, wer sich um meine erwachsenen Söhne kümmern wird. Außerdem habe ich mich entschieden: keine Musik. Ich will Ruhe beim Abschied.“
Bösel ist noch auf dem Weg zur Akzeptanz. Es gibt noch Hürden, „an manches traue ich mich noch nicht ran“. Wenn Hahn leichthin davon erzählt, dass die Organisation der Selbsthilfe bei lebenslimitierenden Krankheiten wie dem Eierstockkrebs eine große Herausforderung sei, weil die Mitglieder eben nach kurzer Zeit schon wieder wegsterben, dann weiten sich Bösels Augen, weil die Furcht darin plötzlich ganz dick wird. Ein paar Schritte aber hat auch sie schon gemacht. Nach dem Diagnoseschock und der Operation haben ihre Frau und Freunde sie Stück für Stück ins Leben zurückbegleitet, erzählt sie. Und zwar buchstäblich. „Jeden Tag ein Schritt mehr. Erst hab ich es nur bis zum Balkon geschafft, dann bis zur Straße, dann zum Auerbachplatz.“ Heute fahre sie wieder Fahrrad, gehe spazieren, koche, auch Karneval habe sie im Frühjahr gefeiert, erzählt Bösel. „Mein Lachen, so habe ich das zu meinem Krebs gesagt, das kriegst du nicht.“ Die Verteidigungstruppe steht. Hahn ist neben ihr. Und ihr mildes, geduldiges Lächeln auch.