ESC 2023Ballermann-Mumpitz oder pinke Metal-Jungs – So schrill wird der ESC-Vorentscheid

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Mittelaltermarkt-Musik, Ballermann-Spirit oder K-Pop-Anleihe: Freitagabend entscheidet sich, wer Deutschland beim ESC vertritt. Eindrücke eines Probenbesuchs.

Die Pflanzen sind verrückt. So geht das nicht. Anica Russos Auftritt kann nur perfekt werden, wenn jede Pflanze an der richtigen Stelle steht. Also wird hier geruckelt und da gezogen, und erst dann geht's los. Russo möchte für Deutschland in Liverpool beim Eurovision Song Contest antreten, wie acht andere Künstlerinnen und Künstler. Freitagabend entscheidet sich im Kölner Coloneum, wer in diesem Jahr versuchen darf, Twelve Points zu ergattern. 

ESC 2023: Sechs von sieben Malen war Deutschland Letzter oder Vorletzter

Sagen wir so: Die Latte für die deutschen Teilnehmer liegt nicht besonders hoch. Von den letzten sieben Malen ist Deutschland sechsmal Letzter oder Vorletzter geworden. Der 2022-er-Unglücksvogel war Malik Harris, ihm waren nur sechs Punkte vergönnt. 

Jetzt aber das Prinzip Hoffnung. Hoffen, dass vielleicht doch nochmal ein Wunder geschieht (Katja Ebstein hat schließlich 1970 bei dem Wettbewerb, der damals noch den unaussprechlichen Namen Grand Prix Eurovision de la Chanson trug, davon gesungen) und jemand auf Nicole und Lena Meyer-Landrut folgt. Oder wenigstens nicht im letzten Drittel landet.

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Wie eine sehr seltsame Fee: Patty Gurdy.

Wie eine sehr seltsame Fee: Patty Gurdy.

Im Kölner Coloneum bespielt mit Patty Gurdy gerade eine Sängerin die Bühne, die heftige Tolkien-Lord-of-the-Dance-Mittelaltermarkt-Fantasyfilm-Assoziationen weckt. „Melodies of Hope“ heißt ihr Song, um den Hals trägt sie ein Instrument, das an eine Zither erinnert, aber eine Drehleier ist. Gurdy bekommt drei Durchläufe, die hohen Töne erwischt sie leider dennoch nicht. Zwischen zwei Durchgängen werden, so sagt die Regie, „kurze Korrekturen“ vorgenommen, und die Zuschauerin wünscht sich inbrünstig, man spräche von der Stimme.

ESC-Auftritte: Perfekt und ein bisschen langweilig

Bei Trong sitzt ziemlich jeder Ton und absolut jeder Schritt in Perfektion. Kein Wunder: Der 30-Jährige mit vietnamesischen Wurzeln hat 2015 die Castingshow „Vietnam Idol“ gewonnen, war Deutscher Meister im Hip-Hop-Tanz. „Dare to be different“ ist ein gut gemachter Popsong, bei dem Trong sich lediglich den kurzen Teil in deutscher Sprache besser gespart hätte. Aber apropos Perfektion: Stimmlich sind Anica Russo, Will Church und Rene Miller top, leider vergisst man die Songs direkt nach dem Auftritt wieder – oder spätestens drei Minuten später.

Will Church steht bei den Proben auf der Bühne.

Will Church steht bei den Proben auf der Bühne.

„Meeeeega“, heißt es dennoch gern aus der Regie nach den Auftritten, alternativ „super“, ganz manchmal gibt es ein einfaches „Vielen Dank“. Aber damit sind vielleicht, man steckt ja nicht drin, auch andere Dinge gemeint als Song oder Gesang.

Ikke Hüftgold will mit goldglänzendem Anzug und schwarzer Perücke zum ESC

In den Kölner MMC-Studios warten gefühlt ohnehin alle auf Ikke Hüftgold. Als der direkt nach der Proben-Mittagspause auf der Bühne erscheint, hier plaudert, dort plaudert, trägt er einen gold-glitzernden Anzug, an dem alles etwas spack sitzt, und die schwarze Fifi-Perücke, mit der man ihn kennt. Ob er sich im ersten Durchlauf noch ein bisschen moderat bewegen könne, fragt der Ballermann-Sänger, bevor es losgeht, und kurz befürchtet man akrobatische Einlagen.

„Wir brauchen endlich mal ein Lied ohne Saufen, wir brauchen endlich mal ein Lied ohne Sex“, singt er dann und „Lalalalala“ im Refrain. Bei der Vorstellung, dass ein „Künstler“ dieses „Lied“ im Ausland vorträgt und Zuschauer aus Finnland oder Italien oder Moldawien damit dann Deutschland assoziieren, wird einem heiß und kalt und flau in der Magengegend. Aber: Zum Mitgrölen, auf einer Bierbank stehend in Wanne-Eickel oder Köln oder am Ballermann, eignet sich das „Lied mit gutem Text“ (Euphemismus des Jahrtausends) bestimmt. 

„Lord of the Lost“: Kunstvoller schreien geht nicht

Im dritten Durchgang bekommt Ikke Hüftgold dann Bodennebel zu Beginn und Pyro-Fontänen. Viel Nebel, viel Pyro, viel Show. Und ganz kurz, für eine Millisekunde, erwischt man sich beim Gedanken: keine soooo schlechte Show.

Lord of the Lost im Coloneum.

Lord of the Lost im Coloneum.

Die liefern auch „Lord of the Lost“ ab. Knallroter, enger Latexanzug, goldene Schuhe, lange, platinblonde Haare: Sänger Chris Harms ist eine absolute Erscheinung und auch stimmlich eine Granate. Im einen Moment schreit er (Könner nennen das „shouten“), im nächsten singt er und dann wieder andersherum. 

Würde die Hamburger Band Deutschland in Liverpool vertreten, es wäre kein bisschen peinlich - sondern wirklich cool.


Das sind alle Teilnehmer des ESC-Vorentscheids in Köln

  • Trong, in Bad Kissingen aufgewachsen („Dare To Be Different“)
  • René Miller aus Stuttgart („Concrete Heart“)
  • Anica Russo aus Berlin („Once Upon A Dream“)
  • Lonely Spring aus Passau („Misfit“)
  • Will Church aus Berlin („Hold on“)
  • Patty Gurdy aus Düsseldorf („Melodies Of Hope“)
  • Ikke Hüftgold („Lied mit gutem Text“)
  • Lord Of The Lost aus Hamburg („Blood & Glitter“)
  • Krankheitsbedingt raus: Frida Gold aus dem Raum Bochum („Alle Frauen In Mir Sind Müde“)
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