„Ich war der Hitler von Köln“Treffen mit einem Ex-Neonazi – Wie Axel Reitz der Ausstieg gelang

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Axel Reitz vor dem Domforum am Kölner Dom.

Axel Reitz bei einem Treffen vor dem Kölner Dom.

Er war eine zentrale Figur der Neonazi-Szene. Heute hält Axel Reitz Präventionsvorträge. Diesen Wandel nehmen ihm nicht alle ab.

Blauer Anzug mit roten Nadelstreifen, gelbes Einstecktuch und ein Strohhut mit roter Krempe – der Mann, der einem an diesem Mittag vor dem Café Reichard am Dom entgegen schlendert, ist kaum 1,70 Meter groß, sticht aber schon von weitem ins Auge. „Entschuldigung, ich hoffe, Sie mussten nicht allzu lange warten“, sagt er lächelnd und streckt die Hand zur Begrüßung aus: „Ich bin der Axel.“

Der Axel. Lange nicht gesehen. Fast 18 Jahre, um genau zu sein. Aber die Bilder vom 19. November 2005 sind noch einigermaßen frisch: Vor dem Bahnhof West am Hans-Böckler-Platz in Köln geifert an jenem Samstagvormittag ein junger Mann mit blondem Seitenscheitel und bubenhaftem Gesicht in ein Megafon, beobachtet von Journalisten.

Köln: Als Berufswunsch nannte Axel Reitz einst „SA-Standartenführer“

Sein langer schwarzer Ledermantel erinnert an die Uniform eines Wehrmachtsoffiziers. Er ist umringt von 40 Rechtsextremen, die ihm applaudieren. Hinter Absperrgittern brüllen 300 Gegendemonstranten das Nazi-Grüppchen nieder. Dazwischen steht die Polizei.

Der Mann mit dem Megafon ist der Axel. Axel Reitz.

Axel Reitz 2005 auf einer Demo in Berlin

Axel Reitz 2005 auf einer Demo in Berlin

In den späten Neunzigern und den Nullerjahren war der heute 40-Jährige eine der zentralen Figuren in der deutschen Neonazi-Szene. In Dormagen geboren, in Pulheim aufgewachsen, in Köln aktiv. NPD-Mitglied, Aktivist in verschiedenen Kampfbünden und Kameradschaften. Ein Holocaust-Leugner und glühender Hitler-Verehrer. Als Berufswunsch nannte er „SA-Standartenführer“. Reden vor Gleichgesinnten beendete er gerne mal mit „Sieg Heil“. Wegen Volksverhetzung und Verstoßes gegen das Uniformverbot wurde Reitz Ende 2005 zu zwei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt.

Spitzname „Hitler von Köln“ machte Axel Reitz zum Gespött der Szene

Der „Express“ titelte schon 2001 über ihn: „165 Zentimeter blanker Hass.“ In den Medien verbreitete sich der Spitzname „Hitler von Köln“.

Als er das zum ersten Mal hörte, habe er lachen müssen, sagt Reitz an diesem Mittag Anfang Juni, nachdem er auf der Terrasse des Cafés Platz genommen hat. Hitler von Köln? So ein Unsinn, habe er gedacht. „Ich war ja nicht völlig irre. Ich hatte zwar ein gewisses Selbst- und Sendungsbewusstsein, aber es wäre mir nie im Traum eingefallen, mich mit Adolf Hitler gleichzusetzen.“ Bei den eigenen Leuten machte ihn der Spitzname teilweise zum Gespött.

Inzwischen hat Axel Reitz eine Wandlung hinter sich, die durchaus erstaunt. Nicht nur optisch. Er ist zertifizierter Anti-Gewalt-Trainer und engagiert sich für den Verein „Extremislos“, der sich gegen politischen und religiösen Extremismus einsetzt. Für „Extremislos“ hält Reitz Präventionsvorträge in Schulen und Berufsschulen, bislang vorwiegend in Norddeutschland. Sein Aufklärungskanal „Der Reitz-Effekt“ auf Youtube hat fast 9000 Abonnenten.

Die Linksextremen sagen über mich: Einmal Nazi, immer Nazi. Und für die Rechtsextremen bin ich ein Verräter
Axel Reitz

Kameraden von einst nennen Axel Reitz heute den „Judas von Köln“, weil er der Szene öffentlichkeitswirksam den Rücken gekehrt hat. Mitunter werde er bedroht, sagt Reitz. Meistens über Social Media. „Die Linksextremen sagen über mich: Einmal Nazi, immer Nazi. Und für die Rechtsextremen war ich nie richtig dabei und bin heute ein Verräter.“ Das ist die Crux eines Aussteigers.

Und es drängen sich Fragen auf: Wie glaubhaft ist seine Geschichte? Kann ein Mensch sich und seine Ansichten tatsächlich so radikal ändern? Oder geht es Axel Reitz am Ende nur um Axel Reitz?

Legt man ihm im Café ein 20 Jahre altes Foto vor, das ihn als Agitator im Ledermantel zeigt, schaut er darauf, zögert kurz und sagt: „Da ist jetzt nur noch Scham. Ich war 15 Jahre lang fanatischer Anhänger einer kranken Idee.“

Porträtaufnahme von Axel Reitz im Jahr 2009

Axel Reitz im Jahr 2009

Sein rhetorisches Geschick, der Hang zur Exzentrik und sein ausgeprägter Drang, im Mittelpunkt zu stehen, katapultierten den Pulheimer Jugendlichen mit Hauptschulabschluss und ohne Berufsausbildung in der Neonazi-Szene ab 1996 schnell nach oben. Prominente Rechtsextreme wie Christian Worch und Thomas Brehl förderten ihn.

„In diesem Umfeld ist es einfach, ohne viel zu können bekannt zu werden“, schreibt Reitz in seinem Buch „Ich war der Hitler von Köln – Mein Weg aus der Neonaziszene und wie Extremismus effektiv bekämpft werden kann“, das in diesen Tagen erscheint. „Es reicht schon, ein bisschen besser als alle anderen zu sein, was nicht schwer ist. Oder man rüttelt an einem Tabu und beweist eine große Fresse, schon wird darüber gesprochen.“

Im Buch beschreibt er, wie alles anfing, damals, mit gerade einmal 13 Jahren. Mit einem sturen Vater zu Hause, der in alltäglichen Dingen keinen Widerspruch duldete. Mit einer Lehrerin, die ihm untersagte, bei einer Projektarbeit über politische Parteien auch die NPD, die DVU und die Republikaner vorzustellen. Das habe ihn getriggert. Er habe sich nicht immerzu den Mund verbieten lassen wollen.

Schleichender Einstieg in den Extremismus

Gerechtigkeit, sagt Reitz heute, habe er damals aus einer sehr egoistischen Perspektive betrachtet, und die habe gelautet: Du darfst alles tun, niemand darf dir Vorschriften machen. Er trat der NPD bei. „Die haben mir die Möglichkeit gegeben, mich auszuleben, sie gaben mir das Gefühl: Du bist mutig, du machst dir dein eigenes Bild und nimmst Repressionen in Kauf. Und ich dachte: Wow, ich bin ein toller Revoluzzer.“

Die rechtsextreme Ideologie habe er dann schleichend übernommen. „Man denkt, die Leute haben den Plan, die sehen die Dinge so wie du. Und was sie dir sonst noch erklären, nimmt man einfach erstmal an.“ Ein ziemlich typischer Einstieg in den Extremismus sei das, sagt Reitz.

„Dass ich Nazi geworden bin, war eigentlich Zufall. Es hätte genauso gut sein können, dass ich zum radikalen Islamisten oder zum Revoluzzer bei der Antifa geworden wäre.“ In seinen Vorträgen warne er die Schülerinnen und Schüler: Kämen zur richtigen Zeit die falschen Leute auf einen zu, bestehe die große Gefahr, abgefischt zu werden. „Egal ob da ein Kommunist kommt, ein Salafist oder ein Rechtsextremist.“

Die Neonazi-Szene wäre nicht mal in der Lage, die Müllabfuhr in einer Kleinstadt zu organisieren
Axel Reitz

2012, nach einer zweimonatigen Untersuchungshaft im Zuge des Verfahrens gegen mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer des „Aktionsbüro Mittelrhein“, habe er beschlossen, mit der Szene zu brechen. Es habe nicht den einen Anlass gegeben, der den Ausschlag gab. „Auch wenn das fürs Storytelling schöner wäre.“ Stattdessen habe er früh gemerkt, dass die bombastischen Ideale von Zusammenhalt und Solidarität nichts als Hirngespinste seien. Die Szene ziehe viele „Spinner“ an.

Über das rechtsextreme Milieu spottet Axel Reitz heute: „Das ist Game of Thrones auf Wish bestellt. Jeder will der Boss sein, jeder will sein Ego ausleben.“ Statt Kameradschaft habe er Kleinkrieg erlebt. „Der eine betrügt die Frau des Kameraden, der andere klaut Geld aus der Kasse. Einer wird als Spitzel enttarnt, der andere wandert zur Antifa ab. Das ist die alltägliche Realität.“ Die Neonazi-Szene maße sich an, die Geschicke der Welt zu kontrollieren. „Dabei wäre sie nicht mal in der Lage, die Müllabfuhr in einer Kleinstadt zu organisieren.“

Axel Reitz absolvierte Aussteigerprogramm des Innenministeriums

Irgendwann habe er Ausreden gesucht, um nicht mehr als Redner auftreten zu müssen: „Weil ich es nicht mehr über mich gebracht habe, den Leuten zu sagen: Ihr seid das kommende Deutschland, ihr seid die Elite dieses Landes. Und insgeheim dachte ich mir: Alter, bitte nicht.“

Der ehemalige selbst erklärte Staatsfeind wechselte ins Aussteigerprogramm des NRW-Innenministeriums. Und er suchte Halt bei Andrew Schäfer, einem Pfarrer vom Landespfarramt für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche im Rheinland.

„Mich von der zugrunde liegenden Ideologie zu verabschieden, fiel mir schon schwerer“, schreibt Reitz im Buch. Ein Ausstieg sei ein Marathonlauf. „Das geht nicht mit einem Fingerschnipp über Nacht.“ Zunächst habe er überlegt, der AfD beizutreten, die 2013 noch vergleichsweise gemäßigt auftrat. Doch dazu kam es nicht, inzwischen verortet Reitz sich im liberalen Spektrum, er wähle die FDP.

Axel Reitz im Juni 2023 am Domforum vor dem Kölner Dom

Axel Reitz im Juni 2023 am Domforum vor dem Kölner Dom

Die AfD von heute sei „inhaltlich und von ihrer Tonalität her“ kaum noch von der NPD zu unterscheiden, findet er. Von einem Verbot hält er dennoch nichts. „Dadurch verschwinden ja nicht die Ideen aus den Köpfen.“ Die AfD müsse man argumentativ stellen, ihre führenden Mitglieder genau ausleuchten, die breite Bevölkerung aufklären. Die etablierten Parteien müssten die Sorgen der Menschen ernster nehmen. „Die AfD steht ja nicht bei 18 Prozent, weil sie so tolle Arbeit leistet oder so sympathische Politiker hat. Sondern weil viele Menschen sie aus Enttäuschung über die etablierte Politik wählen.“

Einer, der Axel Reitz die Wandlung vom Neonazi zum liberalen Freiheitskämpfer nicht so recht abnimmt, ist Jörg Detjen. Der Kölner Ratspolitiker und Mitglied der Linken hat früher Gegendemos zu den Nazi-Aufmärschen von Axel Reitz angemeldet. „Formal“, sagt Detjen, habe Reitz seine Strafe verbüßt und ein Recht auf eine zweite Chance. „Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass er mit Herz Demokrat ist.“ Zumal ihm der Fall eines anderen vermeintlichen Nazi-Aussteigers vor vielen Jahren noch negativ in Erinnerung sei, sagt Detjen.

Auch andere aus der linken Szene in Köln sind skeptisch. Niemand, mit dem der „Kölner Stadt-Anzeiger“ gesprochen hat, bezweifelt zwar, dass Reitz ausgestiegen ist. Aber im Tenor sind sich viele einig: „Ihm geht es nicht um die Sache. Er war und ist einfach ein Selbstdarsteller.“

Axel Reitz selbst geht mit seiner Eitelkeit offen um. Ein Charakterfehler, sagt er. „Aber einer, der niemandem Schaden zufügt.“ Dass viele ein Problem haben, sich von dem „alten, abscheulichen Bild von mir“ zu lösen, wisse er. Könne er sogar verstehen. „Wer mir nicht verzeihen will, dem bin ich nicht böse.“ Aber freuen würde er sich, wenn man ihm die Gelegenheit gäbe, ihm zuzuhören.

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