Ihr Sohn beging Suizid„Ich wünsche mir nur, dass man mich offen anspricht“

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Monika Stöckel

Seit dem Suizid ihres Sohnes vor elf Monaten kämpft die Kölnerin Monika Stöckel (64) gegen den Schmerz und die eigenen Schuldgefühle.

  • Für Angehörige von Menschen, die sich das Leben genommen haben, gibt es nicht genug Hilfsangebote. Oft werden sie aus Scham alleingelassen.
  • Monika Stöckel findet seit dem Tod ihres Sohnes nur noch mit Tabletten in den Schlaf. Unter Menschen geht sie nur mit Unbehagen. Freunde und Bekannte haben sich abgewendet - und sie mit ihrem Schmerz und den Schuldgefühlen allein gelassen.
  • Die berührender Geschichte einer trauernden Mutter

Köln-Porz – Als ein Rettungswagen und ein Notarzt am 2. Januar in der Siedlung in Porz halten, direkt vor ihrer Terrasse, da denkt Monika Stöckel noch: „Was ist denn hier schon wieder los?“ Dass in wenigen Augenblicken ihre Welt zusammenstürzen wird, dass die Rettungskräfte deshalb hier sind, kann sie nicht wissen.

Monika Stöckel ist an jenem Nachmittag gerade auf dem Sprung. Seit zwei Tagen versucht sie, ihren Sohn Steffen zu erreichen. Er antwortet nicht auf sms, geht nicht ans Telefon. Die 63-Jährige ist in großer Sorge. Sie will zu seiner Wohnung nach Mülheim fahren, als es an der Tür klingelt. Im Flur steht die Hausmeisterin, dahinter zwei Polizisten. „Die standen da wie die Zeugen Jehovas“, erinnert sich die allein lebende Frau heute, elf Monate später.

„Passt der Schlüssel?“

„Können wir reinkommen?“, fragt ein Polizist. „Können wir mal probieren, ob der Schlüssel hier in Ihre Tür passt?“, fragt die Hausmeisterin. Der Schlüssel. Polizisten haben ihn tags zuvor in der Jackentasche eines 36 Jahre alten Mannes gefunden, der auf den Gleisen am S-Bahnhof Mülheim gestorben ist, am Neujahrstag 2018, mittags um 11.30 Uhr. Der Mann ist absichtlich vor einen Zug gelaufen. Er heißt Steffen Stöckel.

Die Polizei vermutet, dass Monika seine Mutter ist. Die Beamten müssen sie informieren. Aber noch fehlt der letzte Beweis. Der Schlüssel aus Steffens Jacke passt ins Türschloss. Die 64-Jährige begreift sofort. „Ich habe nur noch geschrien“, erzählt sie. „Die nächste Erinnerung ist, dass ich hier saß, auf dem Sofa, mit Sauerstoff, die ganze Wohnung voller Rettungskräfte.“

Alle 53 Minuten gelingt ein Selbstmord

Statistisch betrachtet versucht alle fünf Minuten ein Mensch in Deutschland, sich das Leben zu nehmen. Alle 53 Minuten gelingt ein Suizidversuch. Pro Jahr sterben 10 000 Menschen durch Selbsttötung – mehr als durch Verkehrsunfälle, Mord, Totschlag und illegale Drogen zusammen. Diese Zahlen nennt das Nationale Suizidpräventionsprogramm (Naspro), ein Bündnis aus Ministerien, Kirchen, Verbänden und Organisationen. Und das Naspro kennt noch eine weitere Zahl: Alle neun Minuten verliert jemand in Deutschland einen nahestehenden Menschen durch Suizid.

Georg Fiedler, Psychologe beim Naspro, fordert, die Hinterbliebenen stärker in den Fokus zu nehmen. „Sie werden oft allein gelassen“, sagt Fiedler. „Es gibt nicht genug Hilfsangebote, da herrscht eine große Lücke.“

Monika Stöckel verliert ihren besten Freund

Monika Stöckel sitzt auf ihrem weißen Sofa, ihre drei Havaneser-Malteser-Mischlinge dösen auf dem Teppich. Steffen sei nicht nur ihr Sohn gewesen, sagt sie, auch ihr bester Freund. „Ich komme aus der Pfalz, da würde man sagen: Wir waren Kopp und Arsch.“ Durchs Fenster fällt der Blick auf eine Trauerecke, die sich die gelernte Dekorateurin auf ihrer Terrasse eingerichtet hat. Weiße Engel aus Porzellan stehen da auf weißen Kieselsteinen neben weißen Vogelhäuschen und weißen Blumenkübeln mit Rosen.

Seit dem Tod ihres Sohnes findet Monika Stöckel nur noch mit Tabletten in den Schlaf. Unter Menschen geht sie nur mit Unbehagen. Vor einer Woche hat sie das letzte Mal hyperventiliert. Sie stand abends vor dem Esszimmertisch, stampfte mit den Füßen auf und schrie plötzlich los, schrie nach Steffen. Minutenlang. Es werde eigentlich auch nicht besser mit der Zeit, sagt sie.

Erst viel Hilfe, dann Stille

Anfangs habe ihr Telefon nicht stillgestanden. Viele wollten helfen. Aber das ist Monate her. Es ist still geworden. Ein paar Freunde hätte sich komplett zurückgezogen, sagt Monika Stöckel. Eine habe die Freundschaft per whatsapp gekündigt, nicht böse, eher hilflos. Sie könne mit der Trauer nicht umgehen, schrieb die Freundin.

Suizid, sagen Forscher, sei noch immer ein gesellschaftliches Tabuthema. Arbeitskollegen, Nachbarn, selbst enge Freunde begegneten den Hinterbliebenen oft unsicher, manchmal ablehnend. Hintenrum wird getuschelt: In der Familie kann ja irgendetwas nicht stimmen.

Auch in den Medien wird selten über Selbsttötungen berichtet, das allerdings aus gutem Grund: Es ist erwiesen, dass vor allem reißerisch aufgemachte und konkrete Schilderungen zu Nachahmungstaten führen können.

Eine andere Ursache für die anhaltende Tabuisierung oder Ächtung des Suizids sei der althergebrachte theologische Gedanke, Gott allein habe das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden, sagt Jörg Schmidt, Geschäftsführer der Selbsthilfeorganisation „Angehörige um Suizid“ (AGUS). Noch vor wenigen Jahrzehnten bekamen Suizidenten kein kirchliches Begräbnis, vor allem in ländlichen Gegenden wurden die Hinterbliebenen gemieden. „Das hat sich zum Glück gewandelt“, sagt Schmidt. Aber noch immer kämpften Viele gegen Scham und Schuldgefühle.

„Ich wünsche mir einfach ganz offen angesprochen zu werden“ 

Monika Stöckel wirft niemandem vor, dass er nicht weiß, was er zu ihr sagen soll. Aber wenigstens das könnte er ja sagen, findet sie. „Ich wünsche mir einfach, dass man mich ganz offen auf Steffen anspricht.“ Auf ihr Kind, ihren besten Freund. Von donnerstags bis sonntags wohnte Steffen bei ihr, den Rest der Woche in seiner kleinen Wohnung in Mülheim. Er war 24, als er sich schon einmal das Leben nehmen wollte.

Es war nicht Steffen Stöckels erster Versuch

Durch Drogenkonsum in seiner Jugend hatte er eine Psychose entwickelt, erzählt seine Mutter. Steffen überlebte. Lag eine Woche in Bad Kreuznach im Koma, machte eine Therapie und einen Entzug. Mit 25 zog er nach Köln – zuerst in ein Heim für betreutes Wohnen, dann in die eigene Wohnung. In Köln sei er drogenfrei gewesen, sagt seine Mutter. „Alles war im grünen Bereich.“ Davon jedenfalls war sie überzeugt.

Nach seinem Tod erfuhr sie von Steffens Therapeutin, dass ihr Sohn zuletzt rückfällig geworden war. Unter Drogen, so glaubte Steffen, hätte er seine Panikattacken besser unter Kontrolle, die ihn seit einer Medikamentenumstellung heimsuchten. „Er wollte sich wohl selbst heilen“, glaubt die Mutter, „und hat sich nur noch tiefer reingeritten.“ Seinen Rückfall hatte Steffen bewusst vor ihr verborgen. „Er wusste: Ich hätte ihm die Hölle heiß gemacht.“ 

Seine letzten Worte

Vorwürfe mache sie sich nun, weil sie nichts bemerkt habe. Und weil sie ihn bedrängt hatte, Silvester mit seinen Freunden zu verbringen statt mit ihr. „Ich habe ihm oft gesagt: Häng dich nicht so an mich, mich gibt’s nicht ewig, geh mit deinen Freunden raus.“ Der letzte Kontakt zwischen Mutter und Sohn war ein kurzes Telefonat am Silvesterabend um 18.12 Uhr. „Hören wir uns um Mitternacht?“, fragte Monika Stöckel. Steffen lachte. „Falls ich dann noch nicht schlafe...“

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Was zwischen 18.12 Uhr und 11.30 Uhr am nächsten Vormittag geschah, weiß Monika Stöckel bis heute nicht. Es lässt ihr keine Ruhe. Am Suizid habe sie keinen Zweifel, sagt sie. Aber sie ist überzeugt: „Er wurde da reingetrieben.“

Zehn Wochen nach dem Tod taucht ein Zettel auf

Irgendjemand habe Steffen Drogen gegeben, um ihn wehrlos zu machen und zu bestehlen. Auf seinem Sofa fand die Polizei Tütchen mit Resten von Rauschgift. Aus seinem Portemonnaie fehlen 350 Euro. Und noch etwas ist rätselhaft: Als der Hausmeister im Frühjahr Steffens Wohnung auflöst, bringt er der Mutter das Portemonnaie. Darin der Kassenzettel eines Supermarktes, datiert auf den 12. März, zehn Wochen nach Steffens Tod. Wie kann das sein?

Auch die Staatsanwaltschaft hat dafür keine Erklärung, wie eine Sprecherin einräumt. Der Kassenzettel sei aber für das Ermittlungsverfahren auch nicht weiter relevant, weil es keine Hinweise auf ein Tötungsdelikt gebe. Monika Stöckel ist enttäuscht, sie klagt: „Die Kripo hat nichts recherchiert.“

Offene Fragen quälen Monika Stöckel

„Wenn Dinge unklar sind“, sagt ihr ehrenamtlicher Trauerbegleiter, der nicht mit Namen in der Zeitung stehen möchte, „erschwert das einen heilsamen Trauerprozess enorm.“ So etwas lasse verwaiste Eltern nicht los. Monika Stöckel habe schwer damit zu kämpfen.

Dabei stemmt sich die Rentnerin mit aller Gewalt gegen den Schmerz. Alle zwei Wochen trifft sie ihren Trauerbegleiter, mit einer weiteren Trauerbegleiterin telefoniert sie regelmäßig. Sie macht eine Therapie, besucht eine Selbsthilfegruppe in der Südstadt und schreibt sich in drei verschiedenen Facebook-Gruppen mit Angehörigen von Suizidenten. Vor allem dieser Austausch mit Menschen, die dasselbe Schicksal erlitten haben, sagt sie, ermutige sie. „Zu wissen, dass es Mütter gibt, denen es geht wie mir, hilft mir sehr.“

Steffen wurde auf dem Ostfriedhof bestattet. Gleich nach seinem Tod stellte Monika Stöckel ein Foto von ihm im Wohnzimmer auf. Inzwischen steht das Bild im Flur. Sie habe es einfach nicht mehr ertragen, sagt die Mutter, dass er sie die ganze Zeit angeschaut habe.

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