Interview mit Renate Mayntz„Ich wollte unbedingt in die Forschung“

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1985 im Wissenschaftlichen Rat der Max-Planck-Gesellschaft

1985 im Wissenschaftlichen Rat der Max-Planck-Gesellschaft

Frau Prof. Mayntz, die Liste Ihrer Veröffentlichungen und Forschungsarbeiten ist schier endlos. Welche Rolle spielt Arbeit für Sie?

Renate Mayntz: Die zentrale Rolle. Von Anfang an. Meine Eltern haben das vorgelebt.

Eine schlechte Work-Life-Balance?

Andere Sachen sind nicht zu kurz gekommen: die Beziehungen zu Menschen, die Arbeit im Garten unseres Hauses in der Eifel, der Reitsport, mein Interesse für Kunst. Meinem Mann, dem Künstler Hann Trier, verdanke ich viel für das Verständnis insbesondere Alter Kunst. Denn die Moderne habe ich nach dem Krieg sofort und unmittelbar verstanden.

Ich erinnere mich an die erste Ausstellung, die ich 1946/47 in Berlin in einer Galerie am Bahnhof Zoo besucht habe. Da waren auch Skulpturen darunter. Und ich erinnere meine Reaktion: Ganz genau so, habe ich gesagt, so muss Kunst sein. Mit meinem Mann habe ich viele Museen, Ausstellungen besucht, beinahe jedes Jahr die Art Cologne. Es war also nicht so, dass ich nur für die Wissenschaft gelebt habe.

1951 entschieden Sie sich nach einigen Semestern Chemie für die Soziologie. Warum?

Noch während meiner Berliner Schulzeit habe ich Vorlesungen zur Tiefenpsychologie gehört. Ich habe mich dann mehr zur Medizin hin orientiert, obwohl ich keine Ärztin werden wollte. Aber ich wollte ergründen, wieso Menschen das tun, was sie im Krieg und in der NS-Zeit getan haben. Es gab nach dem Krieg in Westberlin keine Universität, an der ich Medizin hätte studieren können.

Deshalb habe ich es mit Organischer Chemie versucht. Aber da kam die Einsicht sehr schnell, dass die Chemie keine Antworten liefert, die mich befriedigen. Dann lernte ich, finanziert durch ein Stipendium, in den USA auch das Fach Soziologie kennen und habe mich schließlich dafür entschieden. Ich wollte wissen, wie es zu so etwas Fürchterlichem wie dem Krieg und dem Holocaust kommen kann.

Haben Sie Antworten gefunden?

Ja, einige Antworten. Aber es ist im Rahmen eines Interviews nicht möglich, sie kurz und bündig zu formulieren. Dazu muss man sehr weit ausholen. Wenn man sich mit der Geschichte der Konflikte und Kriege beschäftigt, dann kommt man zu Einsichten, die mit dem Einzelfall allein nicht zu erklären sind. Die Ursache ist eine je historisch spezifische Mischung aus menschlichen Eigenschaften, aus sozialen Gebilden und der Technik, die Menschen erfinden.

Sie kamen 1953 mit gerade 24 Jahren promoviert aus Berlin nach Köln und gingen für Ihre erste Forschungsarbeit in ein Dorf an der Sieg. Ein Kulturschock?

Ich wohnte in Herchen bei Frau Müller über dem Schuhgeschäft. Ja, das war eine andere Welt. Aber es war die Arbeit, die ich machen wollte. Ich wollte unbedingt in die Forschung, und dafür gab es nur ganz wenige Stellen damals. Ich wollte nicht in die Lehre, keine akademische Karriere machen. Ich hatte die Vorstellung, dass die Großindustrie an soziologischen Forschungen interessiert sein würde und sah da meine Zukunft. Und dann gab es in Köln das neu gegründete UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften. Ich wollte mich eigentlich nur über das Profil des Instituts erkundigen, aber man sagte, wenn Sie keine anderen Pläne haben, können Sie morgen mit der Arbeit beginnen.

Und sie machten eine Dorfstudie.

Das war der Anfang. Das Unesco-Institut war eine amerikanische Gründung und auch die Dorfstudie hatte amerikanische Vorbilder. Es ging darum, komplexe soziale Einheiten mit ihren Verflechtungen verstehen zu lernen: Nachbarschaften, soziale Schichtungen der Dorfbevölkerung, Bräuche.

Es ging nicht um das Dorf Herchen im Speziellen, sondern darum, wie eine soziale Schichtung aussieht, wie sie zwischen Gemeinden unterschiedlicher Größe variiert und welches Wirtschaftspotenzial es gibt. Wo entwickelt sich so etwas wie eine elitäre Oberschicht. Dies alles diente der Vergewisserung der sozialen Welt, in der wir leben.

Forschung mit starkem empirischem Schwerpunkt. Haben Sie die Gesellschaftswissenschaften verändert?

Ich habe keinen neuen Ansatz entwickelt, wie etwa Niklas Luhmann. Ich habe mich mit wissenschaftlich überprüfter Methodik fragend mit realen und aktuellen Phänomenen der Gegenwart beschäftigt, mit den Schwerpunkten auf politische Steuerung, Organisation, öffentliche Verwaltung, dann auf die Finanzkrise, jetzt auf den Einfluss der Digitaltechnik auf die Gesellschaft. In meinem Fach hat es nur wenige gegeben, die sich mit Technik beschäftigt haben.

Wenn Sie so wollen, hängt das auch damit zusammen, dass mein Vater Ingenieur war. Ich bin mit Technik aufgewachsen, Technik hat mich immer fasziniert. Technik als Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung kommt bei sehr vielen Sozialwissenschaftlern auch heute eher zu kurz.

Sie kamen aus Berlin nach Köln. Wurden Sie als Gründungsdirektorin berufen, weil Sie der „Kölner Schule“ der empirischen Sozialwissenschaften von René König nahe standen?

Ich kannte René König gut, aber seiner Schule gehöre ich nicht an. Überhaupt würde ich mich keiner der Schulen oder Ansätze in den Sozialwissenschaften zuordnen. Mich hat zuerst die Erklärung ganz bestimmter Probleme interessiert. Und dann habe ich mich der sozialwissenschaftlichen Ansätze bedient, die mir dafür geeignet erschienen.

Es gibt Umfrage-Institute, Algorithmen, die unsere Interesse und unser Verhalten untersuchen. All der Aufwand – wieviel wissen wir wirklich über uns als Gesellschaft?

(lächelt) Tja. Eben. Als Soziologin antworte ich darauf: Wir wissen so viel, wie die Instrumente erfragen, die wir benutzen. Die Aussagefähigkeit der Antworten hängen ganz stark damit zusammen, worauf die Frage eigentlich zielt. Es gibt Fragen, die zielen auf fassbare Dinge. Wenn die Leute nicht lügen, erhält man dann wahrheitsgemäße, konkrete Antworten. Und ich habe mich vor verallgemeinernden Interpretationen und Aussagen immer gehütet.

Den Soziologen der 70er Jahre wurde eine verquaste Sprache vorgeworfen? Sie wägen jedes Wort genau ab.

Ich tue mich mit vielen großen Begriffen schwer: Globalisierung. Kooperation. Allgemeinbegriffe sind fragwürdig. Ich frage immer: Was meint der Begriff in diesem Augenblick? Ich sage immer: Bitte definieren! Was meinen Sie ganz konkret mit diesem Wort. Ich bemühe mich um konkrete Aussagen.

Sie und Ihr Institut haben auch die Politik beraten.

Ja, in dem Sinne einer Situationsanalyse, die auch Perspektiven eröffnet: Wenn ihr das tut, dann könnte die Folge so oder so aussehen. Ursachen und Wirkungen ändern sich unter neuen Bedingungen – die der Digitalisierung, der Globalisierung, der Biotechnologie, des Klimawandels. Wir erleben enorme technische Innovationen, aber deren Folgen sind auch von der Wissenschaft nicht absehbar. Wir fragen nur: Wenn sich das in den und den Bereichen innerhalb eines gewissen Zeitraums durchsetzt, was geschieht dann? Wie ist das, wenn Roboter die menschliche Arbeitskraft ersetzen? Wenn wir mit Drohnen Kriege führen? Wie erfolgt politische Meinungsbildung unter den Bedingungen der digitalen Kommunikationstechnologie?

Braucht Politik mehr Beratung durch die Wissenschaft?

Politik ist in ihrer je eignen Weise – so wie auch die Wissenschaft oder die Kunst – nur locker gekoppelt mit dem Rest der Welt. Sie ist selbstreferenziell. Als Berater kann man sehen, nach welchen Regeln gespielt wird, aber eine Umsetzung von wissenschaftlicher Beratung zu irgendeinem effizienten Handeln ist ausgesprochen schwierig. Sollte die Politik intensiver wissenschaftlich beraten werden?

Nein, sie hat hinreichende Quellen, sich Kenntnisse zu verschaffen. Ich glaube nicht, dass mehr wissenschaftlicher Rat helfen würde. Weil politisches Handeln unter bestimmten Zwängen steht, die durch Beratung nicht erreicht werden: Koalitionsbildung, Durchsetzung, Meinungsbildung. Diese Zwänge können Sie nur durch Beratung nicht ändern.

Die Ursachen für Fehler, Missmanagement sind nicht durch wissenschaftlich zu eruierende Konzepte zu beseitigen. Und die Wissenschaft ist opak. Sie weiß auch nicht immer, wie Abhilfe zu schaffen ist. Auch die Wissenschaft arbeitet sich von Hypothese zu Hypothese, hat mal diese Meinung, und wenn sich eine Hypothese als falsch herausgestellt hat, ändert sie ihre Schlüsse.

Sie haben sich auch mit den Ursachen der Finanzkrise beschäftigt. Warum ist die Politik danach bei der Regulierung gescheitert?

Das liegt an der realen Verteilung der Interessen. Die Politik ist sehr abhängig vom Finanzsystem. Und diese Abhängigkeit lässt sich nicht zurückschrauben. Ich sehe keinen fundamentalen Ausweg aus der Krisenträchtigkeit des jetzigen Systems. Es gibt Vieles, was man vielleicht hätte tun können, was möglich gewesen wäre. Aber auch das wäre nur ein Ausbessern eines extrem verflochtenen Systems. Und dieses System wird uns erhalten bleiben.

Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Demokratien fragiler geworden sind.

Fragilität, Zerbrechlichkeit hat es immer gegeben. Jedes ökologische System ist durch Fragilität gekennzeichnet. Ich verstehe sehr gut, dass viele Menschen in der westlichen Welt heute den Eindruck haben, in einer politisch instabileren Welt zu leben. Das ist aber eine perspektivische Verkürzung von Menschen, die den Zweiten Weltkrieg nicht miterlebt haben. Seit 1950 erleben wir eine im Verhältnis zur europäischen Geschichte relativ stabile Phase. Jahrzehnte des Friedens. Das ist außergewöhnlich.

In anderen Teilen der Welt war es alles andere als friedlich. Wenn Sie die Situation global und über längere Zeiten hinweg betrachten, werden Sie erkennen: Es ist heute so fragil wie es immer war. Die Gegenwart liefert nur andere Gefährdungen, unter veränderten und sich stetig verändernden Sozialstrukturen und technischen Rahmenbedingungen. Beurteilen wir die Welt nur von unserem eigenen begrenzten Horizont aus, dann sind viele Beobachtungen natürlich extrem verunsichernd. Das gebe ich zu.

Was verunsichert Sie?

Darauf habe ich keine Antwort, aber ich kann Ihnen sagen, was mich besonders interessiert: globale Verlagerungen. Die politische und ökonomische Hegemonie der Vereinigten Staaten wird brüchig durch den Machtkampf mit China. Durch die Globalisierung sind wir in Europa Teil dieses Prozesses, der zwar in anderen Teilen der Welt abläuft, aber enorme Folgen auch bei uns haben wird.

Ihr Lebensweg ist stark geprägt von Ihren Aufenthalten und Reisen in den USA. Sie sind schon 1948 bis 1950 an das Wellesley College gegangen, eine Privathochschule für Frauen, an der auch Hillary Clinton oder Madelaine Albright studierten. Wie erleben Sie heute die USA.

Wenn Sie nach Donald Trump fragen, nein, Trump habe ich auch nicht erwartet. Manchmal ist das in der Geschichte - so, dass zu -einem ganz bestimmten Zeitpunkt eine Persönlichkeit auftaucht und- die Macht ergreift. Was dann geschieht, hängt zu einem kleinen Teil auch von den Merkmalen dieser Person ab. Ich habe insgesamt über sechs Jahre in den Staaten gelebt und gearbeitet, und ich habe die Prozesse, die Trump ermöglichen, über Jahrzehnte hinweg beobachten können, auf Reisen unter anderen durch den Rust Belt im Osten der USA. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich die makro-ökonomischen Verhältnisse für die USA gravierend verändert. Auch Trump wird das Rad der Globalisierung nicht derart zurückdrehen können, wie er das ankündigt.

Rechtspopulismus, Re-Nationalisierung, Europa-Aversion. Schlägt da ein Pendel zurück?

Ich denke ja. Eindeutig. Ich kann nicht sagen, welchen Einfluss die Technik auf das Leben kommender Generationen haben wird, ob die Digitalisierung dann eine Kultur schaffen wird, die überall gleich ist. Es wird eine zweite große Welle der Globalisierung geben. Falls wir uns nicht in die Luft sprengen. 

Ihre glücklichste Zeit?

Ich nehme an, das waren die 40 Jahre, die ich mit Hann Trier zusammengelebt habe. Spannende Jahre, privat wie beruflich. Die Zeit der Entwicklung des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Das war das, was ich mir immer gewünscht habe: Ein eigenes Forschungsinstitut.

Sind Sie Kölnerin geworden?

Nein. Ich gehöre zu einer Gattung, für die das Wort Heimat wenig bedeutet. Ich bin vor allem in Berlin aufgewachsen, in der Kriegszeit viel herumgeschickt worden. Von Berlin habe ich mich abgewandt, und Köln ist nie Heimat geworden. Außerdem habe ich nach 1970 - im Wesentlichen in der Eifel gelebt und bin immer nach Köln gefahren, an die Uni und später dann ins Institut. -. Wenn Sie fragen, wo ich mich besonders wohl gefühlt habe: Kalifornien, die Toskana. Aber das ist nicht Heimat. Dieses Gefühl – ich verstehe, was Menschen damit meinen, aber es ist kein Gefühl, das ich habe.

Sind Sie ein pessimistischer oder eher ein optimistischer Mensch?

Ich würde mich keinem der beiden Pole zuordnen. Ich sehe eigentlich immer das eine wie das andere. Aber ich bin ganz sicher kein Optimist.

Neu erschienen:

Ariane Leendertz, Uwe Schimank (Hg.): Ordnung und Fragilität des Sozialen: Renate Mayntz im Gespräch. Frankfurt: Campus 2019.

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