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Interview Renate Liesmann-Baum„Über Abschied zu reden, war nicht sein Ding“

Lesezeit 9 Minuten
Renate Liesmann-Baum sitzt auf einer Couch in ihrem Wohnzimmer. Im Hintergrund steht ein volles Bücherregal.

„Er war entsetzt, ja, fassungslos zusehen zu müssen, wie die Welt aus den Fugen gerät“, sagt Renate Liesmann-Baum über ihren verstorbenen Mann Gerhart Baum.

Bis zu seinem Tod arbeitete der Kölner Liberale Gerhart Baum an seinem „Manifest“, wie er es nannte. Ein Gespräch mit seiner Witwe Renate Baum, die seine letzten Mahnungen nun veröffentlicht.

„Und morgen machen wir den Text fertig.“ Das seien die letzten Worte Ihres Mannes an Sie gewesen, schreiben Sie im Vorwort dieses Buches, das nun postum erscheint. Sie waren über 30 Jahre ein Paar. Haben Sie manchmal gedacht, wir hätten am Ende besser über andere, eher privatere Dinge sprechen sollen, statt nur über Arbeit?

Renate Baum: Das ist eine sehr intime Frage. Aber es ist keineswegs so, dass wir nur über Arbeit gesprochen hätten, sondern auch über viele persönliche Dinge. Und auch nicht nur über Krankheit. Aber aufgrund der zunehmenden gesundheitlichen Baustellen gab es durchaus frühzeitig Hinweise von Ärzten, dass der Abschied näher rückt. Diese Hinweise wurden gehört, aber ignoriert, auch von mir. Und es ging ja lange Zeit auch gut. Trotz vieler Einbrüche. Erst wenige Tage vor seinem Tod gab es andeutungsweise Gespräche in diese Richtung. Er fragte: Ja, was machen wir jetzt? Und wir haben entschieden: Wir machen weiter. Wir machen das Büchlein fertig - sein „Manifest“, wie er es zum Schluss immer nannte - und wir haben Vertrauen in die ärztliche Kunst. Seine unbändige Lebenskraft hat ihn bis zum Ende fit gehalten, im Kopf. Sein Kopf? Der flog! Ich habe mir oft vorgestellt, der Körper wird immer weniger und irgendwann löst sich der Kopf, und der lebt dann ewig.

War das am Ende sein Geheimnis? Dass er einfach weitergearbeitet hat und nicht über den Abschied sprechen wollte?

Baum: Über Abschied zu reden, war jedenfalls nicht sein Ding. Ich habe später oft darüber nachgedacht, ob ich ihn von mir aus darauf hätte ansprechen sollen. Aber dazu kam es nie. Wir waren uns nah. Auch ohne darüber zu sprechen.

Gab es einen Punkt, an dem Sie wussten: Das Buch schaffen wir nicht mehr?

Baum: Auch darüber haben wir gar nicht nachgedacht, sondern einfach gemacht. Und hatten in Uli Kreikebaum einen kompetenten und engagierten Partner. Bis zum Schluss. Das Ende konnten wir uns beide nicht vorstellen. Als dann am frühen Morgen schließlich der Anruf der Klinik kam, war meine erste Frage, ob er leiden musste. Der Arzt sagte „Nein, er ist einfach eingeschlafen.“ Das war mir Trost. Bis heute.

Warum war ihm das Buch so wichtig, dass er selbst im Sterben nicht davon lassen wollte?

Baum: Sich einzumischen, den Menschen Botschaften zuzurufen, das war sein Lebenselixier. Die ganze Kraft seiner Biografie zu mobilisieren, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt – so beschreibt er das auch in dem Büchlein – war ihm wichtiger als alles andere. Er war entsetzt, ja, fassungslos zusehen zu müssen, wie die Welt aus den Fugen gerät. Dabei ging es nicht nur um den Ukrainekrieg. „Die Hütte brennt“ sagte er, und: „Es riecht nach Krieg“. Er verfügte immer schon über ein ausgeprägtes Frühwarnsystem. Er warnte schon vor mehr als zehn Jahren vor der politischen Gefahr von rechts, als viele noch sagten, die Leute wählen die AfD doch nur aus schlechter Laune und weil sie der Regierung eins auswischen wollen. Schon früh sah mein Mann, wie rechtes Gedankengut in die Mitte der Gesellschaft einsickerte.

10.06.2025, Köln: Interview mit Renate Liesmann-Baum zum Buch „Besinnt euch!“ ihres verstorbenen Mannes Gerhard Baum.

Foto: Michael Bause

„Unser Leben war nie langweilig. Manchmal anstrengend. Oft eine Herausforderung. An dem langen Tisch, an dem wir jetzt sitzen, wurde bisweilen heftig diskutiert. Auch gestritten, auch unter uns beiden. Und auch über Nebensächlichkeiten wie zum Beispiel über die Frage, welche Blumen auf dem Balkon gepflanzt werden.“

Ihr Mann wurde im Nationalsozialismus groß. Er wusste also, was im schlimmsten Fall passieren kann.

Baum: Genau. 1932 geboren, gerade am Ende der Weimarer Republik hat er das gesamte Dritte Reich miterlebt. Und später, nach Kriegsende, hat er als Schüler und junger Student erlebt, wie alte Nazis wieder Schlüsselpositionen in der jungen Bundesrepublik übernahmen. Als Schüler im Gymnasium am Tegernsee – wo die Familie nach der Flucht aus dem brennenden Dresden für einige Jahre Zuflucht fand - wollte er beispielsweise Ende der 1940er Jahre eine Gedenkfeier für die ermordeten Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 organisieren. Es gab ein Verbot der Schulleitung mit dem Hinweis, die Widerstandskämpfer wären Vaterlandsverräter gewesen. Das hat ihn in tiefe Zweifel gestürzt, ob die Deutschen überhaupt fähig seien, eine Demokratie aufzubauen. Erlebnisse dieser Art und dazu seine Erfahrungen von Vernichtung und Flucht haben seine Leidenschaft für die Demokratie geweckt und haben ihn sicherlich schon früh motiviert sein berufliches Leben der Politik, das heißt dem Aufbau einer freiheitlichen Demokratie zu widmen. Dass diese in Gefahr gerät, war bis zuletzt seine große Sorge.

Welche Anzeichen haben ihn hauptsächlich beunruhigt?

Baum: Der Dämon heißt Angst, die um sich greift. Und das ist es, was Putin und Xi, Trump, Musk und die AfD verbindet: die Politik der Angst. Es geht um Einschüchterung statt um Argumente, um Macht statt Moral. Drohgebärden werden aufgebaut, Angst vor den Einwanderern, Angst vor wirtschaftlichem Abschwung wird geschürt. Dabei haben sie weder Beweise noch Lösungsvorschläge. Beunruhigend war für meinen Mann zuletzt auch die Bereitschaft vor allem in Teilen der CDU, sich mit der AfD an einen Tisch zu setzen. Was nie passieren darf, ist, dass die freiheitliche Demokratie dazu benutzt wird, um sie abzuschaffen. Davor warnte bereits Carlo Schmid, einer der Gründungsväter des Grundgesetzes. Genau das passiert aber gerade, wenn man sich mit der AfD an einen Tisch setzt. Es ist das gleiche Spiel, das damals Anfang der 1930er Jahre zum Ende der jungen Weimarer Republik führte. Mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 wurde die Demokratie an die Rechtsextremen verkauft. Es ist, als habe man sich das Drehbuch von damals abgeguckt.

Ihr Mann schreibt, das Bürgertum darf sich nach den Erfahrungen aus der Weimarer Republik kein zweites Mal abwenden. Was genau ist denn jetzt die Aufgabe des Bürgertums?

Baum: Wir müssen uns besinnen! Wir müssen uns wehren! Mit Herz und Verstand, mit Worten und Taten. Mit allen Instrumenten einer wehrhaften Demokratie, die uns die Verfassung zur Verfügung stellt. Und zwar in ganz Europa. Die gemeinsamen Werte in den Vordergrund stellen, statt sich die Köpfe einzuschlagen und sich zu zerteilen. Das wäre unser aller Untergang. Mein Mann müsste insofern eigentlich Freude daran haben, wie der neue Bundeskanzler auf der europäischen Bühne Präsenz zeigt. Europa ist unsere Zukunft, wir haben keine andere – das predigte bis zu seinem Tode auch sein Freund Hans-Dietrich Genscher.

Auch Sie haben sich immer politisch engagiert, waren viele Jahre in der SPD. Nach dem Tod Ihres Mannes sind Sie nun in die FDP eingetreten. Warum nicht schon vorher?

Baum: Auslöser war für mich der Zusammenbruch der FDP bei der letzten Bundestagswahl, die mein Mann ja gerade nicht mehr erlebt hat. Dass die FDP als liberale Kraft der Mitte nun nicht mehr im Bundestag vertreten ist, hätte ihn zutiefst getroffen. Für mich war es ein Signal, die jungen, liberalen Kräfte, die es ja gibt, zu unterstützen. Meine Hoffnung ist: Aus diesem kleinen Kern wird etwas Neues wachsen. Dass die Ränder links und rechts jetzt stärker werden und in der Mitte ein Vakuum entsteht, finde ich gesellschaftspolitisch verantwortungslos.

22.09.2022,Köln:Gerhart Baum mit seiner Ehefrau Renate Liesmann Baum. Politiker in seiner Wohnung am Kölner Ubierring/Südstadt.Foto:Dirk Borm

Gerhart Baum 2022 mit seiner Ehefrau Renate Liesmann-Baum auf dem Balkon seiner Wohnung am Kölner Ubierring

Ihr Mann hatte gerade in den letzten Jahren kein ganz einfaches Verhältnis zu seiner Partei. Hat er sich je mit dem Gedanken getragen, auszutreten?

Baum: Möglich, aber das war dann schon sehr viel früher. 1982, nach dieser wirklich existenziellen Wende, haben viele seiner Freunde die Partei verlassen. Damals stand er sicher auch vor dieser Frage. Aber er ist geblieben. Er wollte hoffnungsvoll und optimistisch in die Zukunft denken und war überzeugt, dass die Idee des sozialen Liberalismus, also eines Liberalismus mit sozialer Verantwortung, sich wieder erneuern würde. Er sagte oft: einmal liberal, immer liberal.

In seinem Buch spricht er auch von einem empathischen Liberalismus. Gibt es den in der FDP noch?

Baum: Empathischer Liberalismus hieß für meinen Mann immer: die Freiheit mit Leben füllen. Er sprach auch oft von dem „Wärmestrom“, der zwischen den Regierenden und den Bürgern herrschen sollte. Das beschreibt sicherlich ein Gegenbild zu dem, wie viele Menschen die FDP in den letzten Jahren wahrgenommen haben. Mein Mann hat immer kritisiert, wie sich nach 1982 die FDP immer weiter von der Idee eines ganzheitlichen Liberalismus entfernte und in der Wahrnehmung der Bürger immer mehr zu einer reinen Wirtschaftspartei wurde. Der letzte Parteivorsitzende, Christian Lindner, ein brillanter Darsteller auf der politischen Bühne, hat zu diesem Bild sicherlich beigetragen. Oft genug hat mein Mann sich hier auch öffentlich kritisch geäußert.

Wie sind Sie als Partnerin mit der Streitbarkeit Ihres Mannes umgegangen?

Baum: Unser Leben war nie langweilig. Manchmal anstrengend. Oft eine Herausforderung. An dem langen Tisch, an dem wir jetzt sitzen, wurde bisweilen heftig diskutiert. Auch gestritten, auch unter uns beiden. Und auch über Nebensächlichkeiten wie zum Beispiel über die Frage, welche Blumen auf dem Balkon gepflanzt werden. Diskutieren - das war sein Lebenselement.

Gibt einem ein liberaler Ehemann auch in der Beziehung genügend Freiräume?

Baum: In den letzten Jahren sind wir immer mehr zusammengerückt, was natürlich auch mit seinem Alter und den wachsenden Gesundheitsproblemen zusammenhing. Aber wir sind immer mehr auch zu einem Team geworden. Haben alles gemeinsam gemacht, geplant, auch das Büro, ohne Hilfskraft. Bei den vielen unterschiedlichen Themen, die bei uns auf dem Tisch lagen, wäre es auch schwierig gewesen, eine dritte Person mit im Boot zu haben. In den letzten Monaten bin ich aus Sorge, dass er stürzen könnte, kaum noch aus dem Haus gegangen. Aber eingeengt habe ich mich nie gefühlt.

Als ihr Mann starb, hat eine Pflegerin das Fenster aufgemacht, damit die Seele Ihres Mannes rausfliegen kann, schreiben Sie in Ihrem Vorwort. Gibt es heute Momente, in denen Sie sich der Seele Ihres Mannes besonders nahe fühlen?

Baum: Ja, hier in seinem Arbeitszimmer, an seinem Schreibtisch. Hier fühle ich mich ihm nahe. Da sind seine Bücher, da sind seine Gedanken, Notizen, Berge von Papieren, ausgeschnittene Artikel, da liegt seine Brille, die er bis zuletzt trug. Seine Welt, immer noch. Hier finde ich Trost und Kraft.

Das Büchlein Ihres Mannes endet positiv. „Wir können gemeinsam Geschichte schreiben“, ist der letzte Satz. Teilen Sie seinen Optimismus?

Baum: Entscheidend ist das Wort „gemeinsam“. Damit spricht er uns alle an, die wir freiheitlich denken. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, ja in der ganzen freiheitlich denkenden Welt.

Ein Synonym für die freiheitlich denkende Welt waren lange die USA. Was hätte Ihr Mann zu den neusten Entwicklungen dort gesagt?

Baum: Er wäre entsetzt gewesen. Schauen Sie, was gerade in Los Angeles passiert! Ich habe gelesen, Trump würde den Gouverneur von Kalifornien Gavin Newsom, der sich lautstark gegen die widerrechtlichen Eingriffe der Trump-Regierung wehrt, am liebsten einsperren lassen. Aber mein Mann hätte nie die Hoffnung verloren. Die Demonstrationen, die vielen Menschen, die jetzt in den USA auf die Straße gehen, hätten ihm Mut gemacht. Vielleicht führt das alberne Sandkastenspiel zwischen Trump und seinem ehemals dicken Freund Elon Musk ja aus unserer Sicht zu einem positiven Ergebnis.

Ihr Mann schreibt auch, dass die junge Generation ihm Hoffnung gibt. Sonst wird auf den Jungen ja eher rumgehackt, die würden zu wenig arbeiten und sich nur für ihre Freizeit interessieren. Worauf stützte sich Ihr Mann in seinem optimistischen Blick auf die Jugend?

Baum: Es stimmt eben gar nicht, dass alle jungen Leute faul und wenig engagiert sind. Gucken Sie sich an, wie viele junge Menschen gegen die AfD oder bei Fridays for future auf die Straße gehen. Das hat sich mein Mann mit größtem Vergnügen angeguckt. Er hat aber immer auch gesagt, dass demonstrieren wichtig ist, aber noch wichtiger ist es, sich zu engagieren. Egal wo, das kann in einer Partei sein, das kann in einer NGO sein oder im Nachbarschaftsverein. Wichtig ist es, auch zu handeln. Auch in seiner eigenen Partei setzte er vor allem auf die jungen Leute als Hoffnungsträger. Auf Nachwuchspolitiker wie Johannes Vogel, Franziska Brandmann oder Konstantin Kuhle, der ihn noch wenige Stunden vor seinem Tod im Krankenhaus besucht hatte. Er hat die Anliegen der Jugend immer geachtet.

Wenn Sie jetzt an die Stimme Ihres Manns denken, was hören Sie da? Sein Lachen oder einen bestimmten Satz?

Baum: Vielleicht: Renate, kannst du eben mal kommen!

Was wollte er dann?

Baum: Meistens hatte er dann ein kleines Problem mit seinem Computer, und das oft mehrfach am Tag. Aber bis zuletzt hat er sich bemüht, mit den neuen Technologien klarzukommen. Früher hat er mich auch oft in meinem Arbeitszimmer besucht, einfach um einen Kaffee vorbeizubringen und zu erzählen, was ihn gerade beschäftigt oder über ein Gespräch, dass er gerade geführt hat. Da er in der letzten Zeit auch körperlich nicht mehr so beweglich war, hat er eben nach mir gerufen. Immer suchte er das Gespräch. Das war sein Lebenselixier.


Zur Person: Renate Liesmann-Baum war Musikreferentin der Stadt Köln. Sie war die zweite Frau des FDP-Politikers und früheren Bundesinnenministers Gerhart Baum. Gemeinsam mit ihrem Mann gründete sie die Gerhart und Renate Baum Stiftung, die alle zwei Jahre einen Menschenrechtspreis verleiht mit dem Anspruch, Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens öffentlich zur Sprache zu bringen und Menschen auszuzeichnen, die sich mit besonderem Engagement einem aktuellen Thema widmen.

Das Buch: „Besinnt euch! Das Vermächtnis eines großen Liberalen“ von Gerhart Baum, unter Mitarbeit von Uli Kreikebaum. Suhrkamp, 12 Euro. Uli Kreikebaum ist Redakteur des Kölner Stadt-Anzeiger und hat die Entstehung des Buches in den letzten Monaten von Baums Leben begleitet und es nach Baums Tod gemeinsam mit Renate Liesmann-Baum fertiggestellt.

Am 26. Juni wird es bei der phil.Cologne in der Comedia vorgestellt. Wir verlosen 3x2 Tickets. Wer gewinnen will, schickt eine Mail mit dem Betreff „Besinnt euch!“ und vollständigem Namen bis 19. Juni an: ksta-kultur@kstamedien.de