Autokorso auf den Ringen, erste Liebe, Schicksalsschläge: Anlässlich des 70. Jubiläums des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und Italien blicken wir zurück auf vergessene Kölner Migrationsgeschichte.
„Es war wie in Italien“So lebten italienische Gastarbeiterfamilien in der „Spaghettistraße“ in Köln

Die Nördlinger Straße war ab den 1960er Jahren unter dem Namen „Spaghettistraße“ bekannt, weil hier viele Arbeiter aus Italien lebten.
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Die „Piazza“ ist der zentrale Platz in einem italienischen Dorf. Hier spielt sich das gesellschaftliche Leben ab. „Unsere Piazza war am Altar von San Giuseppe, dem Heiligen Josef, zwischen den Hausnummern zehn und zwölf“, erinnert sich Fiorella Ietro, eine Kölnerin mit sizilianischen Wurzeln. Doch statt auf Sizilien befand sich jener Platz samt Altar in den 70er- und 80er-Jahren in der Nördlinger Straße in Höhenberg, im Stadtbezirk Kalk. „Vor der Hausnummer zehn fehlte nämlich der Baum“, sagt Ietro.
Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat die 54-Jährige und andere Töchter italienischer „Gastarbeiter“ in einem Café der Köln-Arcaden in Kalk getroffen. Auf diesem Gelände schufteten ihre Väter einst im Schichtsystem der Chemischen Fabrik Kalk. Die Frauen berichten von ihrer Kindheit in Kölns vergessenem „Little Italy“. Oder wie sie selbst sagen: in der „Spaghettistraße“.

Sie wuchsen in der „Spaghettistraße“ auf: Diese Frauen sind die Töchter italienischer Gastarbeiter. Heute noch befreundet, leben sie zum Teil immer noch in Kalk. v.l.n.r. Patrizia Sciacca, Fiorella Ietro, Antonia Mirenda, Angela Vella, Mirella Vella, Claudia Longhitano, Gianna Vicario und Dina Loggia
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Chemische Fabrik unterhielt Werkswohnungen: Die Italiener kamen Ende der 60er-Jahre nach Köln-Höhenberg
Die Werkswohnungen in der Höhenberger Siedlung wurden zwischen 1950 und 1953 gebaut. Zwei Jahre später, am 20. Dezember 1955, schloss Deutschland mit Italien sein erstes Anwerbeabkommen zur Vermittlung von Arbeitskräften, die das Wirtschaftswunderland dringend brauchte. Zur Chemischen Fabrik stießen die süditalienischen Einwanderer ab Ende der 50er-Jahre. In die Werkswohnungen in Höhenberg zogen zunächst ihre deutschen Kollegen. Als die Fabrik besser ausgestattete Wohnungen in Gremberg errichten ließ, durften die ausländischen Arbeiterfamilien – insbesondere italienische – dort einziehen. Bis dahin waren sie entweder in Sammelbaracken auf dem Werksgelände untergebracht oder zahlten anderweitig hohe Mieten.
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Die Bezeichnung „Spaghettistraße“ war selbstironisch: Sie deutete das negative Klischee über Italiener als „Pastaesser“ und den hässlichen Begriff der „Spaghettifresser“ positiv um – es war die Strategie jener, die sich am Rande der Gesellschaft selbst ermächtigen wollten. „Wir waren stolz auf die ‚Spaghettistraße‘. Die benachbarte Rothenburgstraße war für uns die Kartoffelstraße, weil da die Deutschen wohnten“, sagt Mirella Vella. Mit ihren drei Schwestern und Eltern wohnte sie in der Hausnummer 21, als sie heiratete, zog sie eine Etage drüber. Auf der Straße hörte man weder Italienisch noch Deutsch, sondern sizilianische Dialekte aus Bronte, Gela, Licata oder Ragusa. Weil die Lebensverhältnisse beengt waren, fand das Leben, wann immer möglich, auf der Straße statt. Fiorella Ietro lebte mit ihren Brüdern und Eltern auf rund 40 Quadratmetern: „Wir waren fünf Kinder, mein Bruder hat in der Küche auf einem Klappbett geschlafen.“

Chemische Fabrik Kalk: Sie stellte ihre Produktion auf dem Kalker Gelände 1993 ein und wurde später abgebrochen.
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Die Wohnqualität in der Straße lasse „zu wünschen übrig, denn ein Großteil dieser schnell errichteten Wohnungen hatte kein Bad“, sagte der ehemalige und mittlerweile verstorbene Mitarbeiter der CfK und Betriebsrat-Mitglied, Arno Werner, 1997 bei einem Vortrag in der VHS. In den Köln-Arcaden erinnern sich die Frauen an alte Zinkwannen, die sie mit gekochtem Wasser füllten, um sich zu waschen – meist in der Küche. Oder sie kippten das Wasser im winzigen Toilettenraum über sich. Dafür waren die Wohnungen billig, die Miete betrug je nach Größe nur 40 bis 80 Mark im Monat. Noch ein Vorteil: Die Familien waren nicht länger von der Gunst einzelner Vermieter abhängig, die zum Teil offen rassistisch waren. Eine dritte Schwangerschaft führte in einer Familie zu, dass sie eine relativ großzügige Altbauwohnung mit Gartenzugang auf Druck des Vermieters verlassen sollte; die Werkswohnung der Cfk kam da gerade recht, erzählen die Frauen.
Trotz der Fremdheit, die die Familien fern der sizilianischen Heimat verspürten, zeichnen die Frauen das Bild einer glücklichen Kindheit. Und Gastronom Biagio Favazza, der zuletzt das „Roccos Kitchen“ in Brück betrieb, vergleicht die „Spaghettistraße“ mit den bunten Gassen von Neapel. „Es gab diese Wärme, die Liebe. In der Straße waren alle Familien befreundet, es war Leben drin“, so der 53-Jährige, der von 1979 bis 2000 dort aufwuchs. „Uns hat es nichts ausgemacht, nicht nach Italien zu fahren“, sagt Fiorella Ietro, „denn hier war es wie in Italien.“ Seilspringen im Sommer, mit Kreide auf den Asphalt malen, auf die gezeichnete Quadrate hüpfen, eine gemischte Tüte im Büdchen für zehn Pfennig kaufen, Kindergeschrei: „Wir hatten die schönste Kindheit da“, sagt Angela Vella.

Alte Aufnahme der Wohnsiedlung mit der Nördlinger Straße als Zentrum von „Little Italy“ in Höhenberg
Copyright: Fiorella Ietro
Kölns Little Italy in der „Spaghettistraße“: Wäscheleinen, quirliges Leben auf der Straße
Auch auf Außenstehende konnte der quirlige Alltag in der Straße anziehend wirken: Zunächst habe sie jedoch einen „Kulturschock“ gehabt, erzählt Claudia Longhitano. Mit 15 Jahren hat sie ihren heutigen Mann Nunzio kennengelernt, der auch in der Straße wohnte. Die junge Claudia sei die erste Deutsche gewesen, die dort mit einem Italiener zusammen war. „Ich war a tedesca“, sagt Longhitano – „die Deutsche“ auf sizilianisch. „Draußen standen die Mülltonnen offen, oft war es schmutzig auf der Straße.“ Das hielt sie nicht ab, direkt zu ihrem neuen Freund zu ziehen. „
Als meine Oma einmal zu Besuch kam und die Leinen mit der aufgehängten Wäsche sah, fragte sie mich: Haben die Fahnen für uns gehisst?“ Bei einer Familie habe die selbstgemachte Salsiccia, die italienische Wurst, quer im Raum gehangen. An Heiligabend gab es Stockfisch. Trotz der für sie kuriosen Bräuche habe sie es dort „geliebt“. „Die älteren Frauen saßen oder standen oft draußen und haben Tratsch ausgetauscht.“
Mit ihren deutschen Klassenkameraden trafen sich die Kinder aus der Spaghettistraße eigentlich nicht, berichten die Frauen. Arno Werner vom Cfk-Betriebsrat drückt das in der Rückschau 1997 expliziter aus, wenn er sagt, „dass durch die Massierung von ausländischen Familien im Bereich Höhenberg bereits damals Anzeichen einer Gettoisierung bemerkbar wurden.“

Biagio (r.) und Mario Favazza wuchsen auch in der Umgebung um die Spaghettistraße auf: Die Familie betrieb 1979 zunächst ein italienisches Lebensmittelgeschäft in der angrenzenden Miltenberger Straße, nach zwei Jahren eröffneten sie einen Pizzaservice, den es jahrzehntelang, zuletzt an der Olpener Straße, gab. (Archivbild)
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Die Erziehung war autoritär, die nach außen gewahrte „Ehre“ zentral. „Ich hatte einen deutschen Freund mit 18: Es hat nur drei Monate gehalten. Der konnte nicht verstehen, dass ich spontan nirgendwohin durfte“, erzählt Patrizia Sciacca in den Köln-Arcaden. „Die sizilianische Mentalität ist geblieben, ich musste meine Eltern, bis ich geheiratet habe, fragen, ob ich rausgehen darf.“
Die Frauen erlebten ihre Eltern als lieb, aber streng. Die älteren Brüder spielten sich als Aufpasser auf und waren zugleich die Unruhestifter in der Straße. Sie zündeten Mülltonnen an, ließen die Motoren ihrer Autos aufheulen, schlugen sich. Wie einmal, als „die rebellischen Jungs die Straße verteidigt haben gegen einen deutschen Punker mit Freunden, der auch dort wohnte“, erzählt Biagio Favazza. Seine Familie betrieb 1979 in der Siedlung ein italienisches Lebensmittelgeschäft, danach jahrelang einen Pizza- und Imbissservice. Die Brüder konnten auch ihren Schwestern gegenüber handgreiflich werden. Einen Keller haben die „Ragazzi“, die italienischen Jugendlichen, einmal mit Alufolie ausgelegt, mit Discokugel ausgestattet und mit Möbeln vom Sperrmüll in einen Party- und Abhängort verwandelt. Die jüngeren Schwestern hielten sich dort nur so lange auf, wie die Brüder es duldeten.

Kölner Italienfans feiern am 4. Juni 2024 nach einem knappen Unentschieden gegen Kroatien auf den Ringen. Auch 1982 feierten die italienischen Fans nach dem WM-Sieg schon so.
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Höhepunkte und Schicksalsschläge in der„Spaghettistraße“ in Köln
Im kollektiven Gedächtnis der ehemaligen Bewohner gibt es auch Schicksalsschläge, zum Beispiel einen Brand im Keller in der Hausnummer 16 in den 80er Jahren. Ein junger Familienvater wollte nachsehen, ob sich oben noch jemand aufhielt. Er fiel die Treppe herunter und starb am selben Abend an einer Rauchvergiftung. „Die ganze Straße hat getrauert“, sagt Mirella Vella. Ein weiterer Schock, ein weiterer Toter: Während der Nachtschicht in der Chemischen Fabrik fiel ein Mann in eine Maschine und wurde zermalmt. Die Polizei suchte die Familie auf. „Giovanni hatte vier Kinder. Wir haben die Schreie der Frau aus dem Fenster gehört“, sagt Vella.

Italienische Prozession in der Nördlinger Straße
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Viele der Elterngeneration sind bereits gestorben. Auf dem Mülheimer Friedhof in der Frankfurter Straße liegen sie einer neben dem anderen, die Gräber der italienischen Einwanderer erkennt man an den Porträts der Toten. Doch die „Spaghettistraße“ wabert als Mythos weiter durch die Erzählungen vieler Familien, die mittlerweile in dritter und vierter Generation in Köln leben – und zum Teil immer noch befreundet sind. 18.000 italienische Staatsbürger leben heute insgesamt in Köln.
Insbesondere an die gemeinsamen Feste denken die Frauen gerne zurück, zum Beispiel während der Weltmeisterschaft 1982. Fahnen wurden an die Fenster drapiert; als Italien das Finale gegen Deutschland gewann, sprangen die Familien in ihre Autos und fuhren Autokorso auf den Ringen. „Ich glaube, die Italiener waren die ersten, die das gemacht haben“, sagt Claudia Longhitano. Sie waren sicherlich auch die ersten, die religiöse Feste auf der Nördlinger Straße feierten. Zwischen Hausnummer zehn und zwölf hielt der Priester am San-Giuseppe-Altar an Fronleichnam eine Messe auf Italienisch. Von hier aus startete eine Prozession, die feierlich durch die Straße zog.

