Spektakuläre FälleKritik an Kölner Gericht – BGH hebt vier „fehlerhafte“ Urteile auf

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Das Kölner Landgericht an der Luxemburger Straße

Köln – Mit teils harscher Kritik hat der Bundesgerichtshof Karlsruhe (BGH) innerhalb nur einen Jahres vier folgenschwere Strafurteile um Mord und Totschlag der 4. Großen Strafkammer des Kölner Landgerichts um die Vorsitzende Richterin Ulrike Grave-Herkenrath (64) nicht nur aufgehoben, sondern regelrecht zerpflückt. Mit der Konsequenz, dass etwa der Tod eines Babys nie gesühnt wird. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ dokumentiert nachfolgend alle spektakulären Verfahren.

Fall 1: Baby Ilias in Kerpen getötet

Der Bundesgerichtshof hatte im April 2020 ein Urteil zum gewaltsamen Tod eines Säuglings aus Kerpen aufgehoben. Die Beweiswürdigung von Richterin Ulrike Grave-Herkenrath, die die Mutter des Kindes zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt hatte, sei „insgesamt widersprüchlich und lückenhaft“.

„Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Würdigung der erhobenen Beweise im Hinblick auf die Täterschaft der Angeklagten zu einem anderen Beweisergebnis gelangt wäre“, so der BGH. Somit käme auch der Vater des toten Babys als Täter in Betracht, der in der ersten Instanz jedoch rechtskräftig freigesprochen wurde. Auch, weil die Staatsanwaltschaft dies unterstützt hatte. Der Mann kann somit nicht noch einmal vor Gericht gestellt werden. 

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Die Eltern von Baby Ilias mit ihren Verteidigern beim Prozessauftakt im September 2018 im Kölner Landgericht.

Belastende Indizien, die für eine Täterschaft des Vaters sprechen könnten, habe das Landgericht im Ursprungsverfahren regelrecht ausgeblendet, urteilten die obersten Richter. So hatte der Vater etwa kurz nach dem Tod seines Babys versucht, eine Obduktion der Leiche zu verhindern.

Eine andere Strafkammer des Kölner Landgerichts musste den Fall neu bewerten, die Mutter wurde letztlich freigesprochen. Der Tod von Säugling Ilias, der nach roher Gewalteinwirkung eine schwere Schädelfraktur und ein massives Hirnödem erlitt, wird damit nie gesühnt.

Fall 2: Tödlicher Streit um 60 Euro

Auch ein tödlich verlaufener Streit im Drogenmilieu muss derzeit vor dem Kölner Landgericht neu verhandelt werden. Neun Jahre Haft wegen Totschlags und versuchter räuberischer Erpressung hatte ein 24-Jähriger erhalten. Der Angeklagte wollte laut Staatsanwaltschaft zusammen mit zwei Komplizen Drogenschulden in Höhe von 60 Euro beim späteren Opfer eintreiben.

In dessen Wohnung in Leverkusen kam es zum Gerangel, der Kontrahent wehrte sich mit einem Schlagring, woraufhin der Haupttäter zugestochen haben soll. Das Opfer verblutete. Der BGH rügte, dass Grave-Herkenrath eine mögliche Nothilfelage außer Acht gelassen habe. Dann wäre der Angriff wohl straffrei.

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Auch müsse es sich nicht unbedingt um versuchten Raub gehandelt haben, da die Täter sich womöglich nicht bereichern, sondern einen in ihren Augen legitimen Anspruch auf Zahlung des Geldes durchsetzen wollten. Der BGH kritisierte ebenfalls, dass das Kölner Gericht trotz bis zu 3,34 Promille Alkohol und Drogen im Körper des Täters von einer vollen Steuerungsfähigkeit ausging.

Die Mutter des Verurteilten hatte sich schockiert darüber gezeigt, mit welcher Leichtigkeit und fast schon fröhlich Grave-Herkenrath das harte Strafmaß verkündet habe. „Dieses Lächeln“ könne sie der Richterin „nicht verzeihen“. Die Mutter hatte das Urteil als falsch bezeichnet.

Fall 3: Den schlafenden Ehemann erstochen?

Die Ehe bestand seit 37 Jahren, bis eine Odenthalerin ihren Mann im April 2019 erstochen haben soll. Während er betrunken auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen hatte, so die Kölner Staatsanwaltschaft, die von Mord aus Heimtücke ausging. Der Mann verblutete im Krankenwagen. Die Ankläger forderten lebenslänglich, die Verteidiger Freispruch. Richterin Grave-Herkenrath entschied sich für den Mittelweg Totschlag, setzte acht Jahre Gefängnis fest.

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Die beschuldigte Odenthalerin mit ihren Verteidigern Karl-Christoph Bode (l.) und Ingmar Rosentreter.

Die Strafkammer habe in ihrem Urteil falsche Tatsachen zugrunde gelegt, so der BGH. So hielt die Richterin einen vorangegangenen Streit des Ehepaares für möglich, eine Heimtücke scheide daher aus. Gleichzeitig hätte man dann aber keinen Tötungsvorsatz annehmen dürfen, so die obersten Richter. Möglich erscheint dann etwa auch eine Körperverletzung mit Todesfolge, zumal nur ein Stich ausgeführt wurde, der äußerlich nur zu einer minimalen Wunde im Brustbereich geführt hatte.  

Für den neuen Prozess ergibt sich damit die kuriose Situation, dass der Richter zwar sogar von Mord ausgehen, aber aufgrund des Verschlechterungsverbots nicht mehr als acht Jahre verhängen kann. Die Angeklagte wurde zwischenzeitlich nach mehr als zwei Jahren aus der Untersuchungshaft entlassen. Sie selbst hatte über ihre Verteidiger Karl-Christoph Bode und Ingmar Rosentreter stets verlauten lassen: „Ich war das nicht.“

Fall 4: Seniorin stirbt bei Raubüberfall durch Enkel

Dass ein heute 39-Jähriger seine Stiefgroßmutter in Pulheim ausgeraubt hat, das steht auch nach der Überprüfung des Kölner Urteils durch den Bundesgerichtshof im März fest. Nicht aber, dass der Mann auch den Tod der 78-Jährigen billigend in Kauf genommen habe. Die Strafammer von Ulrike Grave-Herkenrath hatte eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes ausgesprochen.

Der Verurteile hatte mit Komplizen gehandelt, wobei einer der Täter auch auf dem Rücken des auf dem Bett gefesselten Opfers gekniet habe. Die Seniorin verstarb durch Ersticken. Der Enkel habe dies gesehen und den Tod als Mittäter billigend in Kauf genommen. Später im Urteil wurde das Knien auf dem Opfer nicht mehr erwähnt, so könnte auch die reine Liegeposition zum Tode geführt haben.

Der BGH zeigte sich vom Tötungsvorsatz des Enkels nicht überzeugt und konnte dem Urteil keine Anhaltspunkte entnehmen, warum er den Erstickungsvorgang beobachtet haben soll. Alles andere wäre lebensfremd, hatte Grave-Herkenrath dazu lediglich ausgeführt. Das sei nicht zulässig. Zumal die Tatsache, dass das Opfer gefesselt wurde, ja eher dafür spräche, dass die Frau überleben sollte.

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Der Angeklagte (39) mit seinem Verteidiger Dominic Marraffa im Kölner Landgericht.

Ein Mord-Urteil scheint damit im neuen Prozess vor dem Landgericht ausgeschlossen. Wegen Raub mit Todesfolge droht dem Täter aber immer noch lebenslänglich. Als i-Tüpfelchen bemängelten die Karlsruher Richter auch noch das zu ausufernd geschriebene Urteil. Die Beschreibung unwesentlicher Tatsachen sei „entbehrlich und lenkt eher von den wesentlichen Aspekten ab.“

Sprecher von Kölner Landgericht sieht keine Häufung

Die offenbar schlechte Quote der Strafkammer überrascht Kenner der Kölner Justizszene. Gerade Ulrike Grave-Herkenrath galt als Richterin, die in der Lage war, „betonfeste“ Urteile zu schreiben, die jedem Revisionsantrag standhielten. Wie etwa im Fall des getöteten Kölner Mädchens Lea-Sofie. Der Stiefvater hatte zwölf Jahre Haft wegen Totschlags erhalten, die Staatsanwaltschaft wollte lebenslänglich Gefängnis wegen Mordes. Ausdrücklich hatte der Bundesgerichtshof das schlüssige Kölner Urteil gelobt.

Der Sprecher des Kölner Landgerichts, Prof. Jan Orth, kann indes keine Häufung der aufgehobenen Urteile bei der Strafkammer von Richterin Ulrike Grave-Herkenrath erkennen. Der Eindruck könne vielleicht aufgrund der Veröffentlichungspraxis des Bundesgerichtshofs entstehen. Im gleichen Zeitraum hätten aber dutzende Urteile der Kammer einer Überprüfung der Karlsruher Richter standgehalten.

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Ulrike Grave-Herkenrath, Vorsitzende Richterin der 4. Großen Strafkammer am Landgericht Köln.

Zuvor hatte es nach Angaben des Gerichtssprechers in acht Jahren nur eine Aufhebung gegeben. „Die Urteile sind mit bestem Wissen und Gewissen geschrieben worden und die Kollegen stehen zu ihrer Überzeugung“, sagt Orth. Der Bundesgerichtshof habe hier eine andere Rechtsauffassung. Das gehöre zu einem funktionierenden Rechtssystem dazu.

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